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Akademisches Gejammere

Was man ehrlicherweise auf das Wehklagen von Bachelorarbeit-SchreiberInnen antworten sollte. Marc Carnal weiß Rat.

Wer sich theatralisch über Service-Mängel im Apple-Store entrüstet, einen Herzkaspar wegen zu spät entdeckter Kiwi-Druckstellen erleidet oder einen zur Neige gehenden High-Shine-Lipgloss als Anlass für einen Nervenzusammenbruch nimmt, hört manchmal nicht ganz zu Unrecht, dabei handle es sich doch bitteschön wirklich um “First World Problems”.

Vergleicht man die eigenen trivialen Sorgen mit jenen von bitterarmen, hungernden Menschen in fernen Gefilden, sind erstere natürlich fast alle vollkommen unerheblich.

Muss man also stets an die Dritte Welt denken, wenn man sich über irgendwas ärgert? Natürlich nicht, sonst dürfte man sich ja gar nicht mehr ärgern.

Manchmal tut es allerdings gut, auf ausuferndes Maunzen mit Tadel zu reagieren, nämlich sowohl dem Maunzer als auch einem selbst. Besonders dann, wenn das Lamento vor unangemessenem Selbstmitleid trieft und eine perspektivische Korrektur bitter verträgt.

Ein gutes Beispiel dafür ist ein schon hundertfach gehörtes Wehklagen, das ich hiermit „Bachelor-Jeremiade“ nennen möchte.

Es geht ungefähr so:
„Ende Mai? Oida... Du meinst Ende Mai DIESEN Jahres? HA! Sorry, aber... no chance. NO CHANCE! Hallo?! HUHU! Ich mein... Hörst du mir überhaupt ZU?! Ich schreib ab nächster Woche Bachelorarbeit! Verstehst du? BACHELORARBEIT! Glaubst du, da hab ich ernsthaft Zeit für eine PARTY? Haha, du bist gut, du bist ECHT gut... Ich bin die nächsten drei Monate NICHT ANSPRECHBAR, OKAY?
Oida...
Ich weiß ja SO schon nicht, wie ich das jemals schaffen soll. Ich hab Albträume seit was weiß ich wann. Weißt du eigentlich, wie viel LITERATUR ich lesen muss?! Ich könnt gleich schon meinen Zweitwohnsitz in der Bibliothek anmelden haha.
Irony off.
Ich muss die ganze Arbeit ja erst SCHREIBEN, verstehst? Und mein Betreuer macht jetzt schon ur Stress und für meinen Freund hab ich SO schon keine Zeit und nebenbei, SO GANZ NEBENBEI, haha, ich packs echt nicht, nebenbei soll ich auch noch für zwei Prüfungen lernen!
Hey, ich schwör dir, wenn ich diesen WAHNSINN echt schaff, also ich mein... FALLS ich diesen Wahnsinn tatsächlich schaffen SOLLTE, und wenn ich mir vorstell, dass ich die ganze Arbeit in drei Monaten schreiben soll, weil... Das Thema ist ECHT nicht easy, ja? Also ECHT nicht. Also... Wenn ich mich nicht erschieße, und ich WEISS, dass man da keine Scherze machen sollte, aber jetzt echt hey... wenn ich mich nicht ERSCHIESSE in nächster Zeit und diese SCHEISS ARBEIT IRGENDWIE... Und mir ist die Note echt schon so scheißegal... Also wenn ich das IRGENDWIE hinkrieg, ja, dann schwör ich dir, bin ich weg im Sommer, dann könnt ihr mich alle mal gernhaben, und das hat mir meine Mum auch versprochen, dass sie mir das zahlen, dann bin ich den ganzen Sommer weg und rühr keinen Finger, ich schwörs dir, ich SCHWÖRS dir, Oida, dann leg ich mich sowas von ans Meer und scheiß auf ALLES. Aber daran brauch ich jetzt nichtmal DENKEN! Weil ich KEINE AHNUNG hab, wie ich das schaffen soll, JA?
Und DU, also sorry, aber... Du hast, glaub ich, GLAUB ich zumindest, auch nicht SEHR viel Ahnung, was es heißt, eine BACHERLORARBEIT zu schreiben. Und das passt auch VOLL, echt, Oida, ich will dir jetzt echt VOLL nicht vorwerfen oder so, dass du nicht studiert hast, voll nicht, aber... Du hast halt, glaub ich echt keine Ahnung, was das für ein oarger Stress ist, weil ich mein... Sorry, aber wenn du das selbst schon mal erlebt hättest, würdest du mich wohl eher nicht fragen, ob ich auf deine gschissene PARTY kommen will, wenn ich grad nix anderes im Schädel hab, und zwar echt NIX anderes, als meinen BACHELOR, ja?“

„Ja. Versteh ich natürlich“, entgegne ich dann meistens und zügle meine Zunge. Obwohl ich viel lieber sagen würde, dass ich zwar tatsächlich nicht studiert habe, mich aber dennoch zu behaupten traue, dass da jetzt auch nicht soooo viel dabei ist, fuffzig Seiten lang Forschung aus zweiter Hand wiederzukäuen.

Ich sage dann auch nicht, dass man eine durchschnittliche Bachelorarbeit ja wohl locker in zwei Wochen hinrotzen kann, wenn man sich ein bisschen reinkniet.

Erst recht erwähne ich nicht, was ich mir des Weiteren insgeheim denke: „Kein Hahn wird jemals nach deinem Publizistik-Bachelor krähen. Besonders kein als Personalchef tätiger Hahn.“

carnal.at

Lesungstermine, Bücher und aktuelle Aktivitäten - die Website von Herrn Carnal bietet stets brisante First-World-Infos aus erster Hand.

Auch nicht: „Mit deinem MacBook in einem veganen Cupcake-Café zu sitzen, Rhabarber-Schorle aus einem Marmeladenglas zu trinken und dabei auf Facebook Bekannte anzubetteln, sie mögen sich zwanzig Minuten durch deinen Fragebogen zum Thema Die metaphorische Darstellung des Todes in Lauf-Apps klicken, ist erstens dreist und zweitens nicht gerade das ganz große wissenschaftliche Tennis.“

Und am allerwenigstens würde ich es wagen, das Folgende auszusprechen:
„Niemand hat dich jemals gezwungen zu studieren. Und niemand zwingt dich, dein Studium abzuschließen. Dich in Selbstmitleid zu suhlen, weil am Ende deiner wissenschaftlichen Lehrjahre berechtigterweise und alles andere als überraschend gefordert wird, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, verdient weder Verständnis noch Nachsicht. Die Wahrscheinlichkeit, als Mitteleuropäer in eine wohlhabende Familie geboren zu werden, die gesetzlich dazu verpflichtet ist, dir deine Genderstudies querzufinanzieren, ist ungefähr ebenso gering wie die Wahrscheinlichkeit, als Mitteleuropäer in eine weniger wohlhabende Familie geboren zu werden, für dein Romanistik-Studium aber ein Stipendium zu bekommen. Man muss sich für einen solchen Privilegien-Jackpot weder schämen noch rechtfertigen. Aber in monatelange Weltuntergangsstimmung zu verfallen, weil du zu träge für die Anfertigung einer verfluchten BACHERLORARBEIT bist, lässt mir keine andere Wahl, als dein akademisches Wehklagen als entsetzlich lächerliches FIRST WORLD PROBLEM zu bezeichen.“

Würde ich niemals sagen.

Aber denken wird man es ja noch dürfen.

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