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Turkish president Recep Tayyip Erdogan, flanked by his wife Emine Erdogan, acknowledges supporters, following the results of a nationwide referendum.

Bulent Kilic / AFP

Türkei-Referendum: Eine Wahl ohne Sieger

Das Referendum für eine Verfassungsreform in der Türkei hat sich in eine Abstimmung über Erdoğan verwandelt. Es gibt ein sehr knappes Ja. Viele in der Türkei haben mit diesem Ergebnis gerechnet, doch kaum jemand wird zufrieden sein.

Von Ali Cem Deniz

Erdoğan hat gewonnen, doch das knappe Ergebnis zeigt: der Präsident ist alleine. 51,3 Prozent der Türken haben für die Verfassungsänderung, 48,7 dagegen gestimmt. Endgültige Zahlen dürfte es erst übernächste Woche geben.

Die AKP-WählerInnen konnten mobilisiert werden, doch das Bündnis mit der Nationalistischen Aktionspartei hat dem „Ja“-Lager wenig gebracht. Bei den letzten Parlaments-Wahlen im November 2015 hatten beide Parteien einen Stimmenanteil von 63 Prozent.

An electoral official hands a woman a stamp for her to mark her ballot

Bulent Kilic / AFP

Vor allem in den urbanen Regionen haben die Nationalisten sich der kemalistischen CHP und der pro-kurdischen HDP angeschlossen und gegen die Änderung gestimmt. Selbst ein Teil der AKP-WählerInnen in den Großstädten hat sich von Erdoğan abgewendet. Prominente AKP-Politiker wie Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hatten sich nicht deutlich für die Änderung ausgesprochen.

Was bedeutet ein Ja?

Ali Cem Deniz hat die Fragen und Antworten zu diesem historischen Referendum zusammengefasst.

Für die Gegner des Referendums ist das Ergebnis trotz der Niederlage ein Erfolg. Obwohl die HDP vom Wahlkampf de facto ausgeschlossen war, und die CHP alleine den Wahlkampf geführt hat, haben sich die zwei Lager ein Kopf-An-Kopf-Rennen geliefert. Erdoğan und AKP hingegen lagen trotz riesiger Wahlkampagne und massiven Repressionen unter den Erwartungen. Das vom „Ja“-Lager versprochene Ende der politischen Konflikte rückt damit weiter in Ferne.

Die Unregelmäßigkeiten

Das Nein-Lager spricht schon von Wahl-Manipulation. Sein Vorwurf: Die Wahlbehörde habe rund 1,5 Millionen Wahlzettel ohne offiziellen Stempel für gültig erklärt. Gegen diese Entscheidung protestiert die Opposition jetzt. Das „Ja“-Lager hat einen Vorsprung von 1,3 Millionen Stimmen. Laut Wahlbehörde waren die Wahlzettel zulässig, da die Wasserzeichen intakt waren. Außerdem hätte die Wahlbehörde ihre Entscheidung vor der Auszählung der Stimmen getroffen und ähnliche Fälle hätte es auch Wahlen in der Vergangenheit gegeben, so Sadi Güven von der Wahlbehörde.

Ballots with the words in Turkish that read, 'Evet' or 'Yes' and 'Hayir' or 'No'

YASIN AKGUL / AFP

Die anerkannte unabhängige NGO „Oy ve Ötesi“ prüft derzeit alle Wahlprotokolle und will in den nächsten Tagen ihre Ergebnisse veröffentlichen. Doch egal ob Manipulationen festgestellt werden oder nicht, die Entscheidung der Wahlbehörde die ungestempelten Wahlzettel anzuerkennen hat für viele Menschen die Glaubwürdigkeit der Abstimmung unterminiert.

Stadt vs. Land

Bei türkischen Wahlen ist immer eine Polarisierung zwischen Stadt und Land sichtbar, doch selten war sie so deutlich wie diesmal. Bei Parlamentswahlen hat die AKP in der Vergangenheit Ankara und Istanbul stets gewonnen. Dieses Mal hieß es in den größten Metropolen aber „Hayir“, also Nein. Im Bezirk Üsküdar, eine Hochburg der AKP in Istanbul, hat die Mehrheit sich für ein „Hayir“ entschieden. Von 30 Großstädten haben nur 13 für „Evet“/Ja gestimmt. Diese Spaltung der Gesellschaft wird auch in den nächsten Jahren der bestimmende Faktor in der türkischen Politik sein.

Reaktionen

Wie die AustrotürkInnen gewählt haben, wie Außenminister Kurz auf das Ergebnis reagiert und mehr zum Thema Verfassungsreferendum in der Tükei auf ORF.at

Die Beteiligung an der Abstimmung im Ausland war höher als je zuvor. Das liegt nicht nur an den hitzigen Debatten, um Auftrittsverbote für AKP-PolitikerInnen. Die Abstimmung war erst die vierte Wahl, bei der AuslandstürkInnen in den Botschaften wählen konnten. Das Wahlverfahren wurde deutlich vereinfacht. So konnte man dieses Mal an jeder Botschaft die Stimme abgeben. In Österreich haben sich 73 Prozent der hier lebenden TürkInnen für die Änderung der Verfassung ausgesprochen.

Die Grenzen der AKP

Enttäuschend war das Ergebnis für Erdoğan deshalb, weil die Erwartungen des „Ja“-Lagers unrealistisch hoch angesetzt waren. Der ideologische Unterschied zwischen der islamisch-konservativen AKP und der nationalistischen MHP ist offensichtlich größer, als die Parteispitzen angenommen haben. Die AKP ist die stärkste politische Kraft, doch die Wahlen haben immer wieder gezeigt, dass 50 Prozent ihre absolute Grenze ist.

Protest against the Turkish President on April 16, 2017 in Istanbul after the results of a nationwide referendum.

GURCAN OZTURK / AFP

Spontane Demo gegen Erdoğan am Sonntagabend in Istanbul

Überraschung aus dem Südosten

Unerwartete Unterstützung hat Erdoğan aus den kurdischen Regionen bekommen. In vielen HDP-Hochburgen, hat das „Nein“-Lager zwar deutlich gewonnen, aber auch bei den „Ja“-Stimmen gab es einen sichtbaren Anstieg. Hier sind einige Stimmen von der HDP ins „Ja“-Lager gewandert. In Diyarbakır hat das „Nein“-Lager mit 67,5 Prozent eines ihrer besten Ergebnisse. Doch bei den Parlamentswahlen im November 2015 hatte die HDP hier noch 72,8 Prozent geholt.

Insgesamt ist die Wahlbeteiligung im Südosten ist gesunken und liegt leicht unter dem Gesamtdurchschnitt. Dafür gibt es zwei Gründe: Der eskalierende Konflikt mit der PKK hat im letzten Jahr tausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Außerdem hat der gescheiterte Friedensprozess bei vielen das Vertrauen in die Politik gestört.

Ein Zwei-Parteien-System

So bedeutend das Referendum für die Zukunft ist, so wenig ändert das Ergebnis an der aktuellen Situation der Türkei. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind für 2019 geplant. Dass Erdoğan antritt, gilt als sicher. Doch das Referendum zeigt, dass die Erdoğan-GegnerInnen gute Karten haben. Wenn das „Nein“-Lager einen gemeinsamen Kandidaten hervorbringt, könnte ihm eine große Überraschung gelingen. Das mächtige Präsidentenamt würde dann jemand aus der Opposition besetzen.

Auf dem Papier bringt die Verfassungsänderung ein Ein-Mann-System, doch in der Praxis zeichnet sich immer mehr ein Zwei-Parteien-System ab. Die eine Partei ist Erdoğan und seine AKP. Ob sich eine konkurrenzfähige Alternative dazu entwickelt, wird sich 2019 zeigen.

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