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Theresa May

SN/APA/AFP/OLI SCARFF

Schnell wählen, bevor das Luftschloss fällt

Theresa May hatte versprochen, keine Neuwahlen abzuhalten, doch die Versuchung ihr Wort zu brechen war einfach zu groß. Am 8. Juni will sie sich das Mandat für ihren harten Brexit holen, und so wie es aussieht, hat die Opposition keine Chance. Labour steht ein existenzbedrohendes Debakel bevor.

von Robert Rotifer

Das Leben geht ja ungefähr so: Mit dem Dazulernen beginnt man im Zweifelsfall das schmutzigst und zynischst Mögliche zu erwarten. Bis dann irgendjemand was noch Schmutzigeres und Zynischeres einfällt. Theresa May zum Beispiel.

Egal, welche Begründung die britische Premierministerin sich für die heute überraschend angekündigten Neuwahlen am 8. Juni zurechtlegt, die Tatsachen sprechen für sich:

Die Tories liegen derzeit in den Umfragen bei 42%, Labour bei vollkommen katastrophalen 23%.
In der Welt des britischen First-past-the-post-Mehrheitswahlrechts bedeutet dieser Vorsprung für May die Mutter aller absoluten Mehrheiten.

Dieser Versuchung konnte sie nicht widerstehen, auch wenn sie Neuwahlen bisher ausschloss und damit nun offen ihr Wort bricht.

Gründe für Neuwahlen

Abgesehen davon gibt es nur einen guten Grund, sich mit einem Wahlkampf zu dieser heiklen Zeit noch einmal anderthalb Monate von einem ohnehin schon ultraknappen Fahrplan der Brexit-Verhandlungen mit der EU abzuzwacken, nämlich:

Selbst die größten, vom neuen Empire träumenden Fantast_innen in der Regierung wissen mittlerweile ziemlich genau, dass Brexit in die Binsen geht.

Die steigende Inflation beginnt an der Kaufkraft zu knabbern und die wegen des noch ausgebliebenen EU-Austritts bisher relativ stabile britische Wirtschaft wird nicht ewig wie Wyle E. Coyote über dem leeren Abgrund spurten.

Zudem werden sich einige innerhalb der zweijährigen Artikel-50-Frist völlig unlösbaren Probleme auch unter Schützenhilfe der Brexit-freundlichen britischen Medien nicht mehr lange vor der Öffentlichkeit verbergen lassen.

Siehe etwa die Konseqenzen des angekündigten Herausfallens aus der europäischen Zollunion (jetzt doch nicht mehr so sicher), dem Binnenmarkt (aber lieber nicht gleich), dem Euratom-Abkommen, dem Open Skies Agreement und allen möglichen anderen europäischen Strukturen.

Prestigeverlust

Dazu noch große Prestigeverluste wie das bevorstehende Absiedeln der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde und der Europäischen Arzneimittel-Agentur aus London und das bereits beginnende Abwandern europäischer Finanzgeschäfte aus der City.

Selbiges gilt für die gerade erst aufkeimenden Probleme (beinahe hätte ich „Troubles“ geschrieben) in Schottland und Nordirland (Übrigens: Wir erinnern uns, May hatte doch gesagt, „now is not the time“ für ein schottisches Referendum, von wegen Stabilität und alle Energie in die Verhandlungen mit der EU und so. Nun plötzlich gilt derselbe Grund als Argument für Neuwahlen...)

Ein unter all diesen Umständen völlig unvermeidliches Betteln bei den 27 der EU um einen Interimsdeal bei Ablauf der Austrittsfrist 2019 wäre eine äußerst unattraktive Ausgangsbasis für einen Wahlkampf 2020 gewesen.

Theresa Mays Strategie ist nun, die Konservativen als die große Brexit-Partei ins Rennen zu schicken und sich so eine zweite Legitimation für ihren Kurs zu besorgen. Innerhalb ihrer eigenen Partei wird sich dazu in so kurzer Zeit keine effektive Opposition bilden, und UKIP verliert jede Existenzberechtigung.

Labours Chef Jeremy Corbyn wiederum findet sich mit seiner naiven Entscheidung, seine Fraktion aus Respekt für den „Willen des Volkes“ hinter das Artikel-50-Votum im Unterhaus zu stellen, in einer unmöglichen Situation wieder.

Seine einzige Chance, eine klare Alternative zu May bieten, wäre gewesen, sich gegen Brexit zu stellen. Nun hat er die Scheidung von der EU aber schon mehrmals als eine „Chance“ bezeichnet, britische Jobs zu schützen.

Von diesem Kurs wird er sich bis zur Wahl, selbst wenn er wollte, nicht mehr distanzieren (er will eh nicht, zu stark ist der unter seinen Vertrauten neu erstarkte, als Anti-Globalisierung-Linie wiedergeborene, alte Labour-Euroskeptizismus der 1970er – ein anachronistisches Luftschloss, das dem der rechten Brexiters an Weltfremdheit um nichts nachsteht, aber für viele eben eine Glaubensfrage).

Die Anti-Corbyn-Fraktion innerhalb der Labour Party wiederum wird ihren Chef vermutlich hängen lassen, in der Hoffnung, dass seine Niederlage schwer genug wird, um ihn sofort nach der Wahl loszuwerden. Ein Standpunkt, der allerdings nicht weniger als Labours blanke Existenz riskiert.

Dieser zu erwartende kollektive Selbstmord wird wohl den Liberaldemokraten nützen, die einen großen Teil des Anti-Brexit-Votums für sich verbuchen werden, sowohl von gemäßigten Tories als auch von jenen mehr als zwei Dritteln der Labour-Wähler_innenschaft, die letztes Jahr im EU-Referendum für „Remain“ stimmten.

Labours Dilemma verunmöglicht aber leider auch die einzige wirkliche Hoffnung, Mays Sieg zu verhindern, nämlich die von einigen wachen Geistern bisher vergeblich propagierte Progressive Allianz:

Eine Art taktischer Wahlpakt, indem die Anhänger_innen der Libdems, Grünen, der SNP und Labours eingeladen werden, für die in ihrem Wahlkreis jeweils chancenreichste Alternative zu May stimmen und nach geschlagener Wahl eine Anti-Tory-Einheit bilden.

Aus obigen Gründen (Corbyn...) wird’s das nun sicher nicht spielen.

Einen einzigen kleinen Lichtblick darf ich den heutigen Ereignissen aber doch entnehmen, bloß weil ich so ein sonniges Gemüt bin:

Theresa May hatte garantiert, dass es keine Neuwahlen geben würde.

Dasselbe sagt sie auch über ein zweites EU-Referendum...

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