FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Bierkrug

CC0

Mit Akzent

Die Pyramiden von Favoriten

In einem authentischen Arbeiterlokal in Wien Favoriten. Günther findet, die EU und ihre „Oarschfreiheit“ gehören abgeschafft.

Von Todor Ovtcharov

Aus der Jukebox ertönt fröhliche österreichische Schlagermusik über lebenslustige, rotwangige Burschen und Mädels, die Petting im Heu betreiben. Die Luft in diesem authentischen Arbeiterlokal in Wien Favoriten riecht aber keinesfalls nach Heu. Wenn man den Mut hat, tief einzuatmen, dann nimmt man eine Mischung aus Zigaretten, schmutzigen Socken, billigem Aftershave und Schuhcreme auf. Wir sitzen hier mit meinem neuen Freund Günther. Er erklärt mir, dass die EU dicht machen soll. Günther ist ein ehemaliger Trucker und behauptet, er sei jetzt als Puffbesitzer tätig.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.

„Die Leiden des jungen Todor“ - Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es im FM4 Shop.

Er ist ungefähr vierzig Jahre alt und trägt eine Lederjacke und einen Goldohrring. Seine dünnen Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Mädchen in seinem Puff seien aus Bulgarien und Rumänien, sie bekämen bei ihm „Unabhänigigkeit und warmes Essen“.

Ich erzähle Günther, dass vor ungefähr 100 Jahren fast alle „leichten Mädchen“ in Bulgarien aus Österreichisch-Ungarn gekommen sind. Dort fanden sie „Unabhängigkeit und warmes Essen“. Ich versuche zu scherzen, dass damals der Strom von Wien nach Sofia verlaufen ist und heute scheint es umgekehrt zu sein. „Wir geben euch zurück, was wir früher von euch bekommen haben!“, sage ich. Günther versteht meinen Witz nicht. Ich erläutere ihm, dass er als Puffbesitzer von der „Freiheit von Kapital, Güter und Menschen“ profitiert. Er hört mir nicht zu. Günther hört nur sich selber zu.

Er hasst die EU und „Oarschfreiheit“, die sie bringt. Es ist mir nicht ganz klar was er unter „Oarschfreiheit“ versteht. Bevorzugt er vielleicht eine Diktatur? Bedenkt man sein Geschäft, dürfte er nicht der Konservativste sein. Doch Günther wackelt mit dem Kopf „Wir brauchen Ordnung! Diese 28 unterschiedlichen Kulturen wollen meine Kultur töten!“ Wenn er unter „seiner Kultur“ das Trinken des achten Biers in diesem verrauchten Lokal und das Hören von lebenfroher Musik versteht, sehe ich niemanden, der ihn daran hindert. An den Tischen rundherum sitzen Menschen, die so aussehen, als ob sie hier geboren sind, hier zur Schule gegangen sind, hier geheiratet und Kinder bekommen haben, sowie ihre Enkelkinder hier haben werden. In dieser verrauchten Kneipe. Sie sitzen so fest wie die Pyramiden. Wenn ich mir die Gesichter von Günther und seinen Freunden anschaue, verstehe ich den Satz, dass „alle vor der Zeit Angst haben und die Zeit sich vor den Pyramiden fürchtet“. So wie die Pyramiden ist Günther in „seiner Kultur“ unerschütterlich. Er und „seine Kultur“ sind die Mitte des Universums, alles andere ist Staub.

Ich bestelle noch ein Bier für mich und für ihn. Diese „Oarschfreiheit“ nimmt Günther gelassen.

Aktuell: