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Indian woman rickshaw driver

PUNIT PARANJPE / AFP

Profitieren Frauen in Indien vom wirtschaftlichen Aufschwung?

Junge Frauen in Indien sind besser gebildet als je zuvor und der wirtschaftliche Aufschwung des Landes gibt ihnen neue Perspektiven. Aber heißt das, dass ihre Rollen nachhaltig neu definiert werden? Ein Saturday Reality Check Special zu neuen Frauenrollen in Indien.

von Irmi Wutscher

Stolz zeigt mir Sonia ihr eigenes Reich: Zwei Friseursessel, ein Waschbecken, ein Regal voller Haarfärbemittel, Schminkzeug und bunten Haarspangen. Sonia ist 30, alleinstehend mit zwei Kindern und lebt von ihrem Schönheitssalon. „Die Arbeit hat mir so viel Selbstvertrauen gegeben. Ich kann meine Familie versorgen!“

Sonia in ihrem Beauty Parlour

Irmi Wutscher

Sonia in ihrem Beauty Parlour

Indien im Aufschwung

2016 gehörte Indien zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaften der Welt - ein Plus von 7 Prozent.

Das BIP hat sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht.

Im gleichen Zeitraum hat sich der Prozentsatz der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, halbiert und liegt unter zwanzig Prozent.

Die indische Mittelklasse wird im Jahr 2027 jene von China überholen und damit die größte der Welt sein.

Sonia könnte die Vertreterin einer neuen Frauengeneration sein, die vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Denn die indische Gesellschaft ist gerade im Umbruch. Neue Jobs - vor allem in der IT-Branche - haben vielen jungen Inderinnen und Indern neue Perspektiven gegeben. Immer mehr Menschen können sich einen Fernseher leisten, auch Handys und Smartphones verbreiten sich. Während im Westen die Mittelklasse schrumpft und immer mehr Menschen mit Abstiegs-Ängsten kämpfen, hat sich die Mittelschicht in Indien in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Gleichzeitig erfährt Indien eine der größten Binnen-Migrationswellen seiner Geschichte: in den nächsten 20 Jahren werden in Indien 700 Millionen Menschen in den Metropolen leben.

„Ja, es gibt einen wachsenden Anteil von Frauen, die Ansprüche auf einen gewissen Lebensstil, auf gewisse Freiheiten haben.“ sagt Bijayalaxmi Nanda, Professorin für Gender Studies aus Neu Delhi. „Und das gibt Hoffnung. Aber gleichzeitig gibt es andere Frauen, denen das Recht verwehrt wird, einen Mann zu heiraten, den sie selbst aussuchen, oder alleine außer Haus zu gehen.“ Denn Indien ist ein Land mit 1,3 Milliarden Einwohner_innen, es gibt enorme Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen Nord- und Südindien, zwischen Menschen aus verschiedenen Kasten.

Frauen im Zug

Irmi Wutscher

Der überfüllte Pendlerzug in Mumbai, Frauenabteil

Working Girls mit Selbstbewusstsein

In der Schule und an der Uni haben Mädchen mit Jungen in Indien fast gleichgezogen. Eine bessere Ausbildung der Töchter erhöht deren Chancen auf dem Heiratsmarkt. Viele junge Frauen der Mittelklasse arbeiten oft einige Jahre, nicht selten finanzieren sie die Ausbildung ihrer Brüder und verschieben dafür ihre Hochzeit nach hinten.

Wie zum Beispiel Gautami, eine 24-jährige Studentin aus der Kleinstadt Solapur in Maharashtra. Gautami studiert Mathematik, arbeitet untertags bei einer NGO und nachts als Krankenschwester. „Ich bin das erste Mädchen in meiner Familie, das arbeitet. Am Anfang hatte ich keine Unterstützung. Dass man als Mädchen die Familie finanziell unterstützt, ist noch nicht dagewesen. Jetzt aber konsultieren sie mich bei jeder Entscheidung.“ Indem sie Geld verdienen, steigt das Ansehen der jungen Frauen in der Familie, sie nehmen neue Rollen ein. Oft enden alle diese Freiheiten aber mit der Heirat. Denn die (Schwieger)-Familie hat in Indien oft viel zu sagen, und in traditionellen Wertvorstellungen ist der Platz der Frau nach der Hochzeit im Haus, um die Kinder und die älteren Familienmitglieder zu versorgen.

Indian 'dhaba' - restaurant - owner, Santosh
checks containers of curries at her dhaba on the outskirts of New
Delhi

Prakash SINGH / AFP

Eine Restaurantbesitzerin in Delhi rührt in ihren Curries.

Dass Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt noch lange nicht erreicht ist, zeigt die Statistik. Während junge Frauen in punkto Bildung mit den Männer gleichgezogen haben, ist die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt sogar gesunken: von einem historischen Hoch von 37 Prozent im Jahr 2005 auf 27 Prozent 2014. Eine Erklärung dafür ist, dass sich mit der wirtschaftlichen Liberalisierung der Staat als Arbeitgeber zunehmend zurückzieht, die festen und angemeldeten Stellen weniger werden. Und dass es in größerem Maße die Frauen sind, die in den informellen Sektor gedrängt werden. Oft bekommen sie nur flexibilisierte, unsichere Arbeit, in Teilzeit oder ohne Vertrag. Typische Branchen sind Callcenter multinationaler Konzerne, aber auch Sorgearbeit wie Krankenpflege oder Kinderbetreuung – die oft undokumentiert und im Privaten stattfindet.

Nachhaltige Entwicklung?

Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die das Wirtschaftswachstum in Indien mit sich bringt, haben Einfluss auf die junge Generation und damit auch auf junge Frauen. Familien ziehen in die Städte, um dort ein besseres Leben zu finden. Bei der Ausbildung ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Und es gibt Arbeit für junge Frauen – wenn auch nicht unbedingt sichere Arbeitsplätze – mit der sie eine Zeitlang zum Familieneinkommen beitragen und damit bedeutendere Rollen in ihren Familien einnehmen können.

An Indian worker inspects a pad made of shredded wood fibre at an air cooler factory in Hyderabad

NOAH SEELAM / AFP

Aber kann man hier von indienweiten, nachhaltigen Veränderung ausgehen? Nein, sagt Genderforscherin Bijayalaxmi Nanda: „Es gibt gewisse Hotspots, die Großstädte, wo Frauen neue Bedingungen für sich aushandeln. Außerhalb dieser Hotspots findet man das aber nicht. Indien ist ein Land der Gegensätze und ich würde nicht einmal versuchen, das in einem großen Narrativ zusammenzufassen.“

Man darf nicht vergessen: Während sich Frauen an einem Ort neue Freiheiten nehmen, steigt an anderen Orten die Gewalt gegen Frauen. Auch das Geschlechterverhältnis unter Kindern ist trotz steigenden Wohlstands unausgewogen: 2011 kamen auf 1000 Buben 919 Mädchen, 2001 waren es noch 927 Mädchen. Dieses Auseinanderdriften liegt an genderspezifischer Gewalt: das beginnt mit Abtreibungen von weiblichen Föten oder dem Mord an frischgeborenen Mädchen, die nicht erwünscht sind. Später droht Frauen und Mädchen die Entführung - zur Verheiratung oder für die Sexarbeit.

Trotzdem tut sich etwas quer durch Indien – in kleinen Inseln. In gewissen Lebensphasen ändert sich etwas für Frauen, das sie im späteren Leben vielleicht mitnehmen können, sagt Genderforscherin Bijayalaxmi Nanda: „Die Frauen arbeiten und leben selbstständig für eine gewisse Zeit, sie verdienen ein wenig Geld. Und in dieser Phase machen sie Erfahrungen die sie machen wollen! Dieser Könnte ihre Position verbessert, die Dauer dieser Phase verlängert werden? Könnte der Staat hier soziale Sicherheit bieten? Das sind die Fragen, die wir hier stellen müssen.“

FM4 Reality Check: Women in India

India is undergoing radical change and its women are redefining their role in society. New wealth has brought new aspirations. Now more women are working in professions previously shut off to them and they are increasingly challenging perceptions of how they use their free time too.

Yet as they push forwards, they’ve faced resistance, intimidation and even sexual violence. Fm4’s Irmi Wutscher has spent 3 months exploring India; this Saturday she introduces us to the women pushing boundaries in one of the world’s most dynamic countries.

A Saturday Reality Check with Irmi Wutscher and Chris Cummins, 12noon, 29th April.

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