FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Filmstills

Crossing Europe Festival

Das sind keine Liebesfilme. Trotzdem super!

Sie tanzen, sie duschen, sie haben Sex. Oder doch nicht. Dazwischen ist Alltag und ein Labyrinth an Beziehungskonstellationen. In den erhofften Liebesgeschichten am „Crossing Europe“ versteckt sich harte Gesellschaftskritik.

von Maria Motter

“Dieser Film ist ein Puzzle. 54 mal 2 Minuten-Momente aus Karolinas Leben. Es gibt 43 Billionen Möglichkeiten, sie zusammenzusetzen, und sie werden immer dieselbe Geschichte erzählen“, ist im Vorspann zu lesen. „Satan Said Dance“ steht auf einem Kapuzensweater in einem der 2-Minuten-Momente im gleichnamigen Film von Kasia Roslaniec. Das Bildformat ist ein Quadrat, somit schrumpft die Leinwand auf die Hälfte und verengt sich auf das Leben von Karolina: Sie ist 27, gehypte Debütautorin in Warschau, hat ein Quadrat über einer Brust tätowiert und trägt die Haare pastellrosa. Ob sie wirklich drei Mal am Tag masturbiere, will ihr Verleger wissen. Im Film gibt es Passagen mit Ausschnitten aus dem fiktiven Debüt mit schriller Literatur.

Sex ist wichtig, in Polen fehlen der Karolina aus gut situiertem Elternhaus jegliche Verpflichtungen. Tristesse und Langeweile machen sich immer wieder mal breit, auch wenn Karolina in ihrem emsigen Partymaus-Dasein mit Freund und Affäre mit einem Expat und Fotografen alles tut, um genau diesen Zustand zu vermeiden. Trotzdem stagniert sie. Wenn sie Selfies macht, ist das mehr Dokumentation als Inszenierung. Die Ästhetik des Films pendelt zwischen Euro Trash Girl und osteuropäischem Wasteland. Sie würde so gern etwas oder jemanden einmal richtig vermissen, erklärt sie ihrer Mutter. Wie gut, denn das bedeute, sie habe alles. Sie habe nichts, antwortet Karolina. Die Partymaus eine Nihilistin?

Filmstills

Crossing Europe Festival

„Satan Said Dance“ wurde so manchem im Publikum zu viel. Wer bis zum Schluss geblieben ist, weiß, dass Kasia Roslaniec mit ihrem Film einen Nerv der Generation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs trifft. Zur Filmverwertung gibt es eine App, die einen selber puzzeln lässt, die ist bei uns allerdings nicht erhältlich.

Dates und Ghosts

Der Weg zur Bar in einem Club kann lang werden, wenn unmittelbar zuvor ein Gespräch eine befremdliche Wendung genommen hat. Im OK Deck beim Crossing Europe passiert einem das nicht, da sieht man Mavi Phoenix live und ist guter Dinge. Aber in „People that are not me“ inszeniert die junge israelische Regisseurin den Alltag einer jungen Frau in Tel Aviv und zeigt, was Ghosting und Zombies - das plötzliche Abbrechen von Kommunikation und das ebenso plötzliche Wiedermelden nach Monaten - in Menschen anrichten: Hadas Ben Aroya hat auch gleich die Hauptrolle übernommen und ihr Spielfilmdebüt produziert.

Mavi Phoenix

Crossing Europa / Christoph Thorwartl

Mavi Phoenix war gestern da, heute kommen die großartigen Xiu Xiu auf’s OK Deck in Linz und spielen bei der Nightline des Crossing Europe Festivals.

Es geht um fucking feelings und die werden allein durch die Art, wie sich die Hauptfigur Joy bewegt, klargemacht. Die neue Bekanntschaft Joys stellt sich als Narzisst vor und schickt die Warnung vorweg, verlieb‘ dich nicht in mich. Alles kein Problem, alles lockeres Zeitverbringen, doch plötzlich wird der Mann eifersüchtig und beide sind sie immer auf der Acht, nicht die Person zu sein, die am Ende aufgelöst zurückbleibt. Mit genau diesem, jetzt zu vermeidenden Herzkollaps beginnt „People that are not me“. „Afterhours“ von The Velvet Underground wird in einer Szene gecovert und die Lyrics sind eine Kurzfassung. Aber es zahlt sich aus, diesen Indie-Film anzuschauen: Augen auf bei der Partnerwahl!

Filmstills

Crossing Europe Festival

Zwei Gesichter der Türkei

Andere Protagonistinnen wiederum haben keine Wahl. Am Crossing Europe ist der türkischen Regisseurin Yeşim Ustaoğlu eine Personale gewidmet. Für ihren neuen Spielfilm „Clair Obscur“ ließ sich in der Türkei kein Schauspieler für die männliche Hauptrolle finden. Die türkischen Kinostars wollten die Rolle nicht. Ob ihnen das Drehbuch zu gewaltig erschien oder zu viele Nacktszenen enthielt, weiß Ustaoglu nicht. Mehmet Kurtuluş, den man aus Fatih Akins „Gegend die Wand“ und zig Fernsehproduktionen kennt, hat jedoch zugesagt.

In „Clair Obscur“ stellt die Regisseurin zwei Frauen einander als die zwei Gesichter der Türkei gegenüber: Die Konservative und die moderne Selbstbestimmte treffen sich ausgerechnet in der Psychiatrie. Dort wird eine junge Frau eingeliefert, die unter Verdacht steht, Mann und Schwiegermutter ermordet zu haben, und die schicke, gebildete Psychiaterin beginnt, mit ihr zu arbeiten. Es gibt eine Sequenz im Film, die Höchstspannung erzeugt und eine Frau im Ausnahmezustand zeigt. Unglaublich gut gespielt, thematisiert auch „Clair Obscur“, was Partner einander zumuten können und gipfelt in einem Schluss, der einen nochmal emotional aufgewühlt zurücklässt.

Filmstills

Crossing Europe Festival

Danach holt man sich Pommes und Cola aus der Fast-Food-Filiale. Weil einem danach ist und es spät ist, und dort vor der Theke sind andere „Crossing Europe“-Festivalbesucherinnen, die aus dem gleichen Film kommen. „Erwischt!“ Eine Empfehlung ist auch „Pandora’s Box“ und überhaupt seien alle Filme von Yesim Ustaoglu sehenswert. Yesim Ustaglu gibt am Samstag eine Masterclass – bei freiem Eintritt.

Über die Darstellung von heterosexuellem Sex gebe es auch noch viel zu sagen. Das ist eine andere Geschichte. Gedreht von Filmemacherinnen, gleichen sich die Sexszenen jedoch, als hätten sie sich gegenseitig die Drehbücher geschickt.

Doch ein Liebesfilm

Morgen Sonntag ist dann nochmal eine dänische Doku zu sehen, die unspektakulär umgesetzt jedoch eine außerordentliche Emanzipation zeigt: „Loving Pia“ von Daniel Borgman. Pia ist sechzig, ihre intellektuellen Möglichkeiten sind kindlich, ihre Mutter 84. Dass Menschen sterben, wenn sie über neunzig werden, weiß Pia. In einem berührenden, weil so beeindruckend auf Augenhöhe geführten Gespräch klären die Frauen, was Pia dann machen wird. „Auf die Tiere aufpassen“, sagt Pia. Neben der Garage wartet die Gans Lola auf ihr Futter. Manchmal trägt Pia erst die Schüssel hinaus und vergisst auf das Futter.

„Wir leben schon lange. Wir leben auch gut. Aber wir haben uns nicht entwickelt“, sagt die Mutter einmal. Aber klar wird: Die behinderte Tochter ist nicht blöd und diese Mutter hat alles getan, um ihr das größtmögliche eigene Leben zu ermöglichen. Die zaghafte Annährung Pias an einen alleinstehenden Mann führt bis nach Kopenhagen. Nach „Loving Pia“ will man wissen, ob behinderte Menschen in Skandinavien grundsätzlich so viel mehr zugetraut wird als hierzulande. Oder ob diese Mutter mit ihrer Tochter allein das gute Leben geschafft hat. Eine Mutter-Tochter-Beziehung, auch eine Form Liebe.

Und „Loving Pia“ ist einer der Filme, deren Kurzbeschreibung wohl die wenigsten in ein Kino lockt. Beim „Crossing Europe“ liest man das Elend der Menschheit in vielen der Synopsen. Aber im Kinosaal selbst stellt sich das dann vielfach anders dar. Noch bis Sonntag Abend ist Zeit, andere Welten zu erkunden. Und einen Atlas zur Hand zu nehmen. Den dieser originelle Satz aus dem Programmheft des Crossing Europe will verortet werden: „Im zwischen Kasachstan, Kirgisien und der autonomen chinesischen Region Xinji-ang gelegenen Tian Shan Gebirge wird der Tuyuk-Su Gletscher seit 30 Jahren von der litauischen Glaziologin Ausra Revutaite beobachtet.“

mehr Maria Motter:

Aktuell: