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1. Mai

Berlin, die Mutter der Krawalle

Vor 30 Jahren herrschte in Berlin Kreuzberg Ausnahmezustand: Fliegende Pflastersteine, brennende Autos, Plünderungen - der Beginn einer langen Auseinandersetzung zwischen den Linken, Teilen der Bevölkerung und der Polizei.

Von Gersin Livia Paya

Der Mythos der Berliner Straßenschlachten wurde am 1. Mai 1987, im Kiez am äußersten Rand der Innenstadt, geboren: in Kreuzberg. Berlin erlebte an diesem Tag Krawalle, die Geschichte machten. Es regnete faustgroße Pflastersteine, schnell errichtete Barrikaden brannten, es wurde geplündert, Parolen wurden geschrien und Autos angezündet.

„SO 36“ ist die alte Bezeichnung des Berliner Postzustellbezirks Südost 36, der südöstliche Teil des Bezirks Kreuzberg. Diesen kleineren Teil Kreuzbergs, der als Ortslage im Westen vom Luisenstädtischen Kanal und im Süden vom Landwehrkanal begrenzt wird.

Schon in den 70er und 80er Jahren, vor dieser berühmten Nacht, kam es zu Protesten. Teile der Bevölkerung, vor allem die Kreuzberger, kämpften um leistbaren Wohnraum und besetzten runtergewohnte Altbauhäuser. Bis Klaus-Jürgen Rattay während einer Demo gegen den damaligen Innensenator Heinrich Lummer vor der Polizei flüchtete und unter einen fahrenden Bus geriet und dabei tödlich verunglückte. Carsten, ein radikaler Linker jener Zeit, erzählt im FM4 Interview vom sogenannten „Lummerbraten“, das Schweinefleisch, das die wütende Szene ab diesem Zeitpunkt sehr gerne gegrillt hat. Die Gründe zur Randale häuften sich: Kreuzberg lag brach und Geld wurde für alles ausgegeben, aber nicht für das Wohl der Bewohner dieses Stadtteils. Carsten erwähnt auch „die Volkszählung. Heute ist das irgendwie alles egal, die meisten sind ohnehin auf Facebook, aber damals wollten wir niemanden unsere Personalien geben!“. Es schlossen sich Initiativen zum Boykott gegen den Angriff auf ihre Persönlichkeitsrechte. Der Pflastersteine-Weg zum 1. Mai 1987 wurde geebnet.

1.Mai Berlin 90er Jahre, Pflastersteine und Polizisten

Yana Ratthey

2017 werden wieder viele Menschen auf die Straße gehen. 6.000 Polizeibeamte sind im Einsatz in Berlin und 4.000 davon alleine in Kreuzberg. Die Demonstrationen richten sich gegen Kapitalismus, Rassismus und soziale Ausgrenzung - außerdem werden sie als Testlauf für den G20-Gipfel-Protest gesehen.

Als dann die Polizei eine spontane Demonstration gegen eine Kindertagesstätte stoppte, hat sich die Lage endgültig zugespitzt. Die Idee einer Kita, bei der die Kinder abgegeben werden und das im linken Milieu der Stadt, wo sonst Migrantenkinder mit arbeitslosen Jugendlichen den ganzen Tag auf der Straße spielten, war nicht in ihrem Sinne. Und alles aufgebraute musste rausgelassen werden: Autonome, Punks, linke Radikale, junge Migranten, auch Carsten, der Westberliner und viele mehr, zerlegten den Görlitzer Bahnhof. „Wir haben mit allem, was wir in die Hände kriegten, auf die Stahlträger getrommelt und Krach gemacht.“ Die Randale hatten begonnen.

Wir brauchten keine Handys, wir hatten Zettel, Stift und Fahrräder, wir kannten alle Wege durch die Stadt und jeder hat jedem Bescheid gegeben. Binnen einer Stunde waren wir stärker als die Polizei! Wir haben auch die Straßenschilder umgeschrieben und die Polizei ins Neverland geschickt.“ erzählt Carsten weiter. Der 1. Mai 1987 war Revolte, Gewalt und Widerstand. Ein Widerstand, bei dem sich die Polizei und Feuerwehr in jener Nacht zurückziehen musste und Berlin für eine Nacht in einen Zustand ohne staatliches Gewaltmonopol versetzte. Zumindest „bis wir alle betrunken und zu müde waren, um weiter zu machen.

90er Jahre Berlin, 1.Mai Straßenschlacht, Demonstration, Schwarz Weiss

Yana Ratthey

„Lasst uns in das Leben, schmutzig sein, fliehen, lachen, wie freche Gören tanzen, Ordnung stören.“

In allen Jahren danach, bis heute, gibt es diejenigen, die versuchen, diese Revolte wieder aufleben zu lassen, und die anderen, die versuchen, sie zu verhindern. Yana Ratthey, die 45-jährige Ostberlinerin hat den 1. Mai „irgendwann nach der Öffnung der Mauer, in den 90er Jahren“ zum ersten Mal miterlebt und fotografisch festgehalten. Sie erlebte auch noch die Pflastersteine des Widerstandes, das Tränengas der Staatsgewalt, aber auch das friedliche Fest, bei dem alle, auch die Polizei, freundlich in die Kamera lachten.

#NotMyfest ist eine Gegenbewegung zu der Party im Kiez und kommt von der SO36-Punk-Bewegung und den Anwohnern. Es richtet sich gegen die Kommerzialisierung des 1. Mai. „Eine Veranstaltung, die weder die politische Geschichte des 1. Mai ernstnimmt, noch die Bedürfnisse der Anwohnerlnnen respektiert.“ Mehr dazu hier nachzulesen.

In den letzten Jahren ist der 1. Mai eher zur friedlichen Touristenattraktion mutiert. Die Demonstrationen sind angemeldet, kooperativ und werden von der mittlerweile in Deeskalation geschulten Polizei im Zaum gehalten. Auch das sogenannte „Myfest“, organisiert von Friedensstiftern aus dem Kiez, von Geschäftsleuten und Bürgerinitiativen, zieht sich, immer ab 12 Uhr Mittag, durch Kreuzberg. Bis zu Zehntausend Menschen werden mit 8 großen Bühnen, etlichen DJ Gigs an Straßenecken und 100 Ständen mit Essen und Trinken versorgt und unterhalten.

2016 MyFest Berlin und Grillerei auf der Straße mitten in Kreuzberg

Gersin Livia Paya/radio Fm4

Vermutlich lachen diesmal die meisten freundlich in ihre eigene Handy-Kamera. Aber ein Posting wird wie meistens aufgrund der Netzüberlastung nicht möglich sein. Oder wie mir die SO36-Szene glaubhaft macht, wird das Netz absichtlich abgedreht, damit die Demonstranten des Jahres 2017 sich nicht mobilisieren können. Jedoch schon 1987 wurde mit Zettel und Stift Geschichte gemacht...

Kreuzberger Straßen im Jahr 2017, Anti-Myfest Plakate auf der Straße

Gersin Livia Paya/radio FM4

Berlin Kreuzberg 2017

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