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Ein Lottoschein

APA/HELMUT FOHRINGER

Mit Akzent

Vasile hofft auf einen Lottosieg oder einen Atomkrieg

Die Aussichten sind gering, wenn man selber nichts mehr zu verlieren hat.

von Todor Ovtcharov

“Wie geht es dir?”, frage ich Vasile. “90 Prozent!”, antwortet er und lächelt mich mit seinem zahnlosen Lächeln an. “Ich brauche nur im Lotto zu gewinnen und dann werden es 100! Jede Woche spiele ich Lotto. Ich wohne schon 27 Jahren in Österreich und es ist keine Woche vergangen, ohne dass ich Lotto gespielt habe. Diese Woche ist der Jackpot 40 Millionen Euro, wenn ich gewinne bekommst du auch eine!”

Vasile kommt aus der südrumänischen Stadt Tulcea, wo auch mein Opa geboren wurde, bevor er noch als Kind nach Bulgarien ausgewandert ist. Mein Opa spielte auch Lotto. Er spielte immer die gleichen Zahlen und gewann sein ganzes Leben lang nie etwas. Als er starb, fanden sie in seinem Sakko einen Lottozettel. Alle hofften ganz abergläubisch, dass er dieses Mal gewonnen hätte. Vergeblich. Auch dieses letzte Mal hatte er kein Glück.

Mit Akzent

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Eigentlich lachte mein Opa jedes Mal, wenn er erfuhr, dass er wieder nichts gewonnen habe. Da in Bulgarien die Lottoeinnahmen zur Sportförderung benutzt werden, sagte mein Opa immer, dass er den Fußball fördert. Er war ein ehemaliger Fußballer. Er hatte eine schöne Wohnung, doch er blieb selten zu Hause, da ihm meine Oma auf die Nerven ging. Er nutzte jeden Moment, sich krank schreiben zu lassen und ins Sanatorium zu gehen. Dort war sein wahres Zuhause.

Vasile ist seit fünf Jahren obdachlos. Er hat alles verloren, nachdem er angefangen hatte Falschgeld in Österreich unter die Leute zu bringen. Er erzählt, dass er zwei Jahre wie ein König gelebt hat, bevor sie ihn erwischt haben. Dann kam er ins Gefängnis. Er hatte eine Wohnung in Graz, eine Frau und ein Kind. Danach hatte er nichts mehr. Bei seiner Familie ist er unerwünscht, seinen Sohn darf er nicht mehr sehen. Vasile ist aus dem Sozialsystem rausgefallen. Er ist ein Bettler. Da er schon so lange in Österreich ist, kann er nicht zurück nach Rumänien, sagt er. Dort habe er auch nichts.

Ein Bettler mit einem Becher voll Münzen

APA/HANS KLAUS TECHT

Mein Opa fuhr oft nach Rumänien, wo er Verwandte hatte. Seine Mutter sprach ganz schlecht Bulgarisch, obwohl sie fast ihr ganzes Leben in Bulgarien gelebt hat. Sie war noch schlimmer als meine Oma, aber mein Opa liebte sie. Immer wenn wir mit ihm meine Uroma besuchten, holte sie eine Schachtel Schokopralinen, in der nur eine einzige Praline drinnen war. Ich dachte mir, dass die Schachtel immer dieselbe sei und sich niemand traute, die letzte Praline aufzuessen.

Jedes Mal, wenn ich Vasile frage, wie es ihm geht, sagt er „90%“, oder „wenigstens gibt es noch keinen Atomkrieg“. Er sagt es gleichzeitig mit Freude und mit Enttäuschung. Vasile hofft insgeheim, dass der Atomkrieg kommt. Dann wird es egal sein, ob er im Lotto gewonnen hat, oder nicht. „Ich habe nichts zu Verlieren, die Anderen können nur verlieren!“

Mein Opa erinnerte sich an den Zweiten Weltkrieg. Der habe ihn dazu gebracht, Tulcea zu verlassen und nach Bulgarien zu kommen. Er fühlte sich als Migrant, der sich integriert hat.

Einige Monate lang sehe ich Vasile im Park nebenan nicht. Er war an der Côte d’Azur. Monaco, Nizza, Cannes. Viel Geld haben die Franzosen, sagt er mir und sie geben es auch den Bettlern, weil die französische Revolution von Bettlern begonnen worden ist.

Mein Opa war nie im „Westen“. Sein Maß für westlichen Reichtum waren Polen und die DDR. Aber er war Menschen aus anderen Ländern gegenüber immer höflich: „Du weißt nie, wohin dich das Schicksal treibt.“, sagte er aus eigener Erfahrung.

Laut Vasile gab es in Frankreich „Schwarze und Araber, die sich für Franzosen halten“, die ihm Geld gaben. Das konnte er nicht aushalten. Er kam nach Österreich zurück, wo „Schwarze Schwarze sind und keine Österreicher“. Aber der Atomkrieg naht und bringt Vergeltung für alle. Außer er gewinnt vielleicht im Lotto.

Ich versuche ihm von meinem Opa zu erzählen, der nie was im Lotto gewonnen hat, aber er hört mir nicht zu.

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