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Straßenkonzert einer Punkband

(c) Ostkreuz Agentur Harold Hauswald

DDR-Punk und seine Rolle beim Fall der Berliner Mauer

Tim Mohr erzählt die Geschichte des Mauerfalls aus der Sicht der DDR-Punks und würdigt damit ihre historische Rolle beim Umsturz und ihren Einfluss auf die Berliner Clubkultur bis heute.

Von Rainer Springenschmid

Das Berliner Nachtleben der Neunziger Jahre: Techno, Untergrund, und das Gefühl, einen fast unbegrenzten Freiraum, immer neue Orte, mit dem zu füllen, was dort Jahrzehnte lang gefehlt hat: dem Gefühl von Freiheit. „Es gibt eine direkte Verbindung … zum Eimer und Tacheles, zum Tresor und WMF, zum Berghain und About Blanks, und zu all den Clubs, die noch nachfolgen werden.“, schreibt Tim Mohr in seinem Buch „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“. Es handelt von den ostdeutschen Punks der Achtziger Jahre und und ihrem Einfluss auf das Ende der DDR und die Berliner Clubkultur bis heute.

Doch das Nachtleben von heute ist nur das Schlusskapitel einer viel größeren Geschichte. Denn die Freiheit und die Clubszene sind die Ernte dessen, was genau diese Szene, die DDR-Punks der Achtziger Jahre, damals erkämpft hatte. Mit Blut, Schweiß, Tränen, Alkohol und Punkrock. Klingt pathetisch, war aber so.

Punks vor einem Riesenrad

(c) Ostkreuz Agentur Harold Hauswald

Too Much Future in der DDR

Fast zeitgleich mit dem Auftauchen der Sex Pistols in London und dem Entstehen erster Punkszenen in ganz Europa fühlten sich auch in Osteuropa Jugendliche von der Kraft und der Geisteshaltung des Punk angesprochen. Im Gegensatz zum „No Future“ im Westen, hieß das Lebensmotto hier „Too Much Future“: Der Lebensweg im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies war vorgezeichnet, persönliche Entfaltungsmöglichkeiten gab es praktisch keine. Entsprechend aggressiv reagierte die Staatsmacht auch auf Stachelhaare, beschmierte und löchrige Kleidung und Sicherheitsnadeln im Ohr – die zur Schau getragene Unangepasstheit.

Schulverweise, Polizeikontrollen, Nächte im Knast, Stasi-Ermittlungen und Prügel waren Alltag. Trotzdem wuchs die Szene rasant, nicht nur in Ostberlin, auch in Leipzig, Weimar, Halle, Dresden, Magdeburg und Frankfurt/Oder – was bereits Anfang der Achtziger Jahre Panik bei den Behörden auslöste. Die Staatsmacht konnte weder mit der Kritik von links umgehen, noch mit der Tatsache, dass es keine Rädelsführer, keine Organisation, keine Hierarchie gab. Und schon gar nicht damit, dass diese furchtbar aussehenden Leute solch grässliche Musik machten und dazu auch noch Texte über Dinge sangen, die sich in der DDR sonst niemand zu sagen traute.

Interviews, Fotos, Stasi-Akten

Tim Mohr hat Interviews mit vielen Protagonisten von damals geführt und deren Fotoalben, Flugblattsammlungen und die vorhandene Literatur gewälzt. Er hat auch viele Stasi-Akten durchgearbeitet und in historischen Archiven recherchiert. Mit dieser Fülle an Material beschreibt er die Punkszene der DDR von den Anfängen an. Er zeichnet die Lebensgeschichte einzelner Punks nach, beschreibt die ersten Treffpunkte, die überschießenden Reaktionen der Staatsmacht, die Pöbeleien der Bürger, die dort auch nicht anders klangen als im Westen: „Beim Adolf hätte man euch vergast“. Er erzählt, wie die ersten Bands entstanden: Planlos, Rosa Extra und Namenlos in Berlin, Wutanfall in Leipzig, Schleim-Keim in Erfurt. Er beschreibt die Suche nach Auftrittsmöglichkeiten in den Kellern leerer Häuser, wie sie sich leere Wohnungen nahmen oder gleich die ganzen Häuser, wie aus dem Freiheitsdrang politische Arbeit wurde, die ersten Parolen auf Hauswände gesprüht, anarchistische Theoretiker debattiert wurden. Wie der Kontakt zur Offenen Arbeit der evangelischen Kirche gesucht wurde – der einzige offiziell geduldete Freiraum in der DDR abseits des allmächtigen Staates.

Tim Mohr erzählt von der gespaltenen Rolle der Kirche, in der einzelne aufgeschlossene Pfarrer und Diakone die atheistischen Punks unterstützten, was andere – vor allem die offizielle Kirchenleitung – vehement zu unterbinden versuchten. Er erzählt, wie der Staat versuchte, die Punks als Nazis zu kompromittieren – was diese mit intelligenten Guerilla-Aktionen konterten, zum Beispiel Kranzniederlegungen an KZ-Gedenkstätten. Und wie er dann, Gipfel der Verlogenheit, ab Mitte der Achtziger Jahre die Naziskins nicht nur einmal gegen die Punks gewähren ließ.

Der Autor Tim Mohr

Thomas Hoeffgen

Tim Mohr

Beitrag zum Fall der Mauer

Der Autor beschreibt das Leben zwischen den allgegenwärtigen Stasi-Spitzeln, die engste Freunde, Bandkollegen, Familienmitglieder ans Messer lieferten, erzählt vom Versuch des Staates, die Szene mit Gewalt zu zerschlagen, Einzelne im Knast oder durch sichtbare Dauerüberwachung zu zermürben, Misstrauen zu säen und die Punks zur Ausreise in den Westen zu überreden. Doch die meisten blieben, sie konnten mit dem kapitalistischen Westen genauso wenig anfangen wie mit der als Sozialismus verkleideten Spießerdiktatur im Osten. Und mit ihrer Beharrlichkeit, ihrem Freiheitsdrang, dem Punk-typischen Aktionismus und gewitzter Fantasie waren schließlich die Punks, so Mohrs Kernaussage, Hauptbeteiligte daran, diese Spießerdiktatur zu Fall zu bringen. Es ist nur ein Symbol unter vielen, dass die Parole „Wir sind das Volk“ – der Schlachtruf der Leipziger Montagsdemonstrationen, die dem Regime im Herbst 1989 den Todesstoß versetzten – Jahre zuvor erstmals als Textzeile eines Songs der Erfurter Band Schleim-Keim auftauchte.

Buchcover "Stirb nicht im Warteraum der Zukunft"

Heyne Hardcore

„Stirb nicht im Warteraum der Zukunft - Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer“ von Tim Mohr ist im Verlag Heyne Hardcore erschienen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke, Frank Dabrock.

Darum trägt Mohrs Buch auch den Untertitel „Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer“ – der Beitrag der Punkszene in Ostberlin, Leipzig, Dresden, Halle, Weimar und anderswo zur ’89er Revolution in der DDR wird in der offiziellen Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigt. Natürlich ist vor allem die Rolle von Michail Gorbatschows Glasnost- und Perestroika-Politik am Zusammenbruch des osteuropäischen Kommunismus nicht hoch genug einzuschätzen, doch meist werden Ronald Reagan, Papst Johannes Paul II., Helmut Kohl oder (weniger ernst gemeint) David Hasselhoff als die genannt, die die Mauer zum Einsturz gebracht haben. Selbst wenn die ostdeutsche Opposition einmal nicht vergessen wird, ernten nur die bürgerlichen Dissidenten um Bärbel Bohley und der eine oder andere evangelische Pfarrer die Lorbeeren.

Geschichte von Unten

„Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ ist nicht das erste Buch über Punk in der DDR, in den letzten zehn Jahren sind einige lesenswerte Aufarbeitungen erschienen mit Titeln wie „Too Much Future“, „Auch im Osten trägt man Westen“, „Wir wollen immer artig sein“, „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ oder „Satan, kannst du mir noch einmal verzeihen“.

Doch Tim Mohrs Verdienst ist es, die Geschichte der Punks in der DDR nicht nur extrem spannend zu erzählen, sondern sie auch in einen größeren Zusammenhang zu stellen, ihre Rolle sowohl als DDR-Opposition als auch beim Entstehen des Berliner Nachtlebens der Neunziger Jahre zu würdigen. So erzählt er die Geschichte des Mauerfalls neu – und zwar von unten. Das macht das Buch auch historisch äußerst relevant.

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