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The Horror! The Horror!

Wirklichkeit ist nur im Angesicht von Angst erfahrbar. Dieser These geht eine Gruppe Amateurfilmemacher in Roman Ehrlichs neuem Roman „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ nach und schürft nach dem Verborgenen in uns.

von Daniel Grabner

Es ist ein seltsamer Wunsch, den Moritz, die Hauptfigur in Roman Ehrlichs Roman hegt: Der Angestellte einer Werbeagentur möchte sich selbst dabei zusehen können, wie er im Film eines besonders brutalen Todes stirbt. Ein Todeswunsch-Light sozusagen, den der frisch getrennte, vermutlich irgendwo zwischen Ende Zwanzig und Anfang Dreißig Jahre alte Münchner gleich zu Beginn eines Telefonats mit seinem alten Freund Christoph äußert. Christoph hatte ihn gefragt, ob er nicht bei dessen Horrorfilmprojekt dabei sein möchte. Der Roman besteht aus Moritz‘ Nacherzählung, einer persönliche Chronik der Ereignisse. Damit ist zu Beginn schon mal klar: Moritz wird bei diesem Unterfangen keineswegs tatsächlich sterben. Trotzdem stellt sich beim Lesen eine unterschwellige Ahnung ein, dass „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ seinem Namen inhaltlich gerecht werden wird.

Die Angst ist überall

Gut 600 Seiten umfasst Roman Ehrlichs Epos über eine Gruppe Menschen, die nicht einfach nur einen Horrorfilm drehen, sondern ihrem visionären Regisseur Christoph folgend, einer Idee nachgehen, die weiter geht. Die These: „Der Normalzustand unserer Gesellschaft […] ist der Horror. Die Angst ist überall, und alles, was wir tun, ist von ihr bestimmt. Sie ist der Subtext der Gespräche, in der U-Bahn, im Supermarkt und an den Theken der Lokale. Sie regiert die Regierungen, die uns regieren.“ Einen Horrorfilm zu drehen bedeute also nicht, sich im Fiktiven zu bewegen, sondern im Dokumentarischen. „Ihr seid der Plot, die Protagonisten und der Ort des Geschehens.“

Buchcover: Titel auf gelbem Grund

Fischer Verlag

„Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ von Roman Ehrlich ist im S.Fischer Verlag erschienen.

In der ersten Hälfte des Romans folgen wir Moritz zu den regelmäßig stattfindenden „Angst-Sitzungen“ in ein Hinterzimmer, bei denen Freiwillige auf die Bühne treten, und ihre Geschichten erzählen. Das Ziel ist es, diese unterschwelligen, persönlichen Ängste zu Tage zu fördern. Aus den Protokollen dieser Sitzungen soll später das Drehbuch entstehen.

Schmerz und Abhängigkeit

Es sind alltägliche Erfahrungen, traumatische Erlebnisse und Selbstbeobachtungen, die sich die Charaktere erzählen und an deren Ende wie ein Fazit eine Befürchtung steht. Die Angst, den Argwohn gegenüber Fremden nicht mehr loszuwerden, die Angst vor dem Kontrollverlust durch einen schizophrenen Schub, die Angst eines Kameramanns, nach jahrzehntelanger Arbeit in der Pornoindustrie, in sich selbst etwas abgetötet zu haben oder die Angst vor einer nahenden Katastrophe. Die Gruppe bekommt sehr bald etwas Elitäres, Eingeschworenes. Die Mitglieder, allen voran Moritz, entwickeln eine Abhängigkeit von diesen Sitzungen. Die wird auch nicht besser, als im „nächsten Schritt“ ein Folterkoffer zum Einsatz kommt, aus dem die Teilnehmer ein Werkzeug zur Selbstfolter wählen können. Der Schmerz soll dabei helfen „an den Ort der größtmöglichen Innerlichkeit“ zu gelangen.

Ehrlichs Hauptfigur ist einerseits zurückhaltender Beobachter dieser Geschehnisse, gerät aber doch immer tiefer in den Sog der Produktion. Er entwickelt einen streberhaften Ehrgeiz und verschreibt sich ganz der Idee, die für ihn Lebensmittelpunkt wird. Spätestens hier denkt man an Chuck Palahniuks „Fight Club“.

Box in a Box

Zur Recherche sieht sich die Gruppe in den Sitzungen immer wieder auch selbst Filme an. Die Handlungen und einzelne Szenen daraus werden von Roman Ehrlich genau beschrieben. Teilweise sind es fiktive Filme wie der Zombiefilm „My Rotten Roommates, And My Rotten Self“ oder aber Filme von Wim Wenders, Lars von Trier oder David Lynch. Der Autor paraphrasiert auch einen fiktiven Roman „Die Soldatin“, den Moritz liest, und bis ins Detail analysiert. Dieses Nacherzählen und Beschreiben von Erzählungen, wie es Roman Ehrlich hier macht, legen immer auch ein Stück die Machart und die Funktionsweise dieser Medien im Medium offen.

Die Wirklichkeit liegt darunter

Vieles scheint im Verborgenen und muss hervorgeholt werden. Neben dem Verdeckten in uns, das in den „Angst-Sitzungen“ hervorgeholt werden soll, auch das Verdeckte im Äußeren, in unserer medial vermittelten Welt. Ehrlich lässt seine Hauptfigur diese Welt beobachten. Es geht ihm um die Narrative, die im Film, in der Literatur oder den Geschichten, die wir uns erzählen, eingebettet sind. Wie beeinflussen sie unsere Wahrnehmung, unser Empfinden der Welt? Der Mythos und das Unbewusste sind die eigentlichen Schauplätze des Romans.

Die Wirklichkeit ist das Darunterliegende, unter Ideologie und Geschichte, in der unbewussten Botschaft unserer Psyche und im mythischen Kern des medialen Äußeren. „Wahre“, unmittelbare und unvermittelte Wirklichkeit, so die radikale These von Regisseur Christoph, ist nur im Angesicht von Angst und Schmerz zu erfahren.

Soldat im Dienste der Sache

Die Dreharbeiten finden im Zuge eines wochenlangen, beschwerlichen Fußmarsches durch Deutschland statt, in der sich Regisseur Christoph immer mehr zum fanatischen Guru entwickelt. Drehbuch gibt es trotz aller Erwartungen keines, auch keinen Drehplan. Szenen werden spontan inszeniert und beginnen eher harmlos. Im Laufe der Zeit aber werden die Szenen mit Kunstblut und Schminke, wie ein improvisierter Zombie-Flashmob auf einem Marktplatz, zunehmend radikaler. Immer wieder werden einzelne Personen aus der Gruppe scheinbar willkürlich von Kameramann und Regisseur herausgepickt und an ihre psychischen Grenzen gebracht. Die Gruppe wird bei Vandalismus, Brandstiftung und Einbruch, also beim Terrorisieren ihrer Umgebung gefilmt. Das Gelingen des Projekts wird wichtiger, als das Wohl der anderen. Bei einem Unfall verliert jemand einen Finger, was von der Gruppe nur kalt registriert wird. Als die Vorräte langsam knapp werden, springen immer mehr Teilnehmer ab. Nur Moritz bleibt, urteilt hart über andere und ist ganz der Mitläufer, der Soldat im Dienste der Sache geworden, der sich bis zuletzt über die längst obsoleten Anschlussfehler, die im Film auftreten könnten, Sorgen macht.

Was uns Roman Ehrlich hier plastisch vor Augen führt ist, eine brandaktuelle, gesellschaftliche Dynamik. In „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ lässt sich eine Gruppe Menschen auf ihre diffusen Ängste ein und folgt einem heilsversprechender Führer. Es ist auch die ganz persönliche Geschichte eines Menschen, der sich in einer Idee selbst aufgibt und schlussendlich verliert. „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ ist ein großartiges Stück Literatur, vielschichtig und intelligent.

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