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Ein Land zerfällt

Olga Grjasnowas neuer Roman „Gott ist nicht schüchtern“ erzählt vom syrischen Bürgerkrieg und dem brutalen Zerfall einer ganzen Gesellschaft.

Von Ali Cem Deniz

Zwei Karten, zwei Menschen, ein Krieg. „Gott ist nicht schüchtern“ ist ein Roman, der sich wie ein Erlebnisbericht oder eine Reportage liest. Doch die Autorin Olga Grjasnowa war niemals in Syrien. Umso bemerkenswerter ist, wie genau sie das Syrien vor dem Bürgerkrieg beschreibt.

Cover mit Vögeln

Aufbau Verlag

Olga Grjasnowa, „Gott ist nicht schüchtern“, Aufbau Verlag, 2017

Ein unfreiwilliger Revolutionär

Hammoudi und Amal sind keine Menschen, die ihr Land verlassen müssten. Im Frühling des Jahres 2011 leben sie noch ein angenehmes Leben. Hammoudi ist plastischer Chirurg und hat einen guten Posten in einer Pariser Klinik ergattert. In Syrien will er nur ein paar Tage bleiben, den Pass verlängern und dann den Dienst in Paris antreten. In der Pass-Behörde bekommt er die Absurdität und Willkür der Bürokratie zu spüren. Der Arzt darf nicht ausreisen, weil es Sicherheitsbedenken gebe. Er müsse sich an die syrische Botschaft in Paris wenden – persönlich. Als Hammoudi den Beamten fragt, wie er das anstellen soll, wenn er nicht ausreisen darf, bekommt er nur knapp zu hören: „Ich werde nicht mit ihnen diskutieren.“ Er weiß, dass es zwecklos ist zu protestieren.

Während seine wohlhabende Familie alles in Gang setzt, um seine Ausreise zu ermöglichen, begibt sich der Arzt auf die Suche nach einem Job in seiner Heimatstadt Deir ez-Zor. Doch die syrischen Krankenhäuser wollen sein französisches Diplom nicht anerkennen, bis er die Verantwortlichen ordentlich schmiert. Der Arzt möchte nichts lieber als endlich nach Paris zurückzukehren, wo nicht nur sein Job, sondern auch seine Freundin Claire auf ihn warten. Anfangs kämpft er noch gegen die Langweile und die Arbeitslosigkeit, doch schon bald gegen das Regime. Seine Heimatstadt wird zur Hochburg der Proteste.

Zwischen Romantik und Gewalt

Amal, die andere Protagonistin des Romans, ist eine junge und erfolgreiche Schauspielerin. Ihr Vater ist Ingenieur und hat sie alleine aufgezogen. Ihre russische Mutter ist irgendwann nach Moskau zurückgegangen. Wieso, weiß Amal nicht, aber sie weiß, dass ihr Vater ihr den wahren Grund verschwiegen hat. Das hat sie ihm niemals verziehen und auch ihrer Mutter nicht, dass sie wortlos verschwunden ist. Seither hat sie den Respekt vor jeglicher Autorität verloren.

Während in Ägypten die Regime-GegnerInnen den Sturz von Mubarak feiern, beteiligen sich Amal und ihre Freundin Luna an den ersten Demos in Syrien. An jeder Ecke stehen Geheimdienstler. Das Regime ist bereit alles zu tun, um die Proteste im Keim zu ersticken. Amal kommuniziert in geheimen Codes und kann ihre Angst vor der Polizei und dem Militär kaum verheimlichen. Dennoch macht sie mit. Nicht alle wollen das Regime stürzen. Für ihre Freundin, die ebenfalls aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, ist die Revolution vor allem ein romantisches Erlebnis. Ihre Familie hat hohe Posten im Staat. Doch in Syrien ist jegliche politische Aktivität gegen den Staat eine gefährliche Angelegenheit und schon bald gerät Amal ins Visier der Geheimdienste.

Olga Grjasnowa

René Fietzek

Olga Grjasnowa

Erinnerung an Syrien

„Gott ist nicht schüchtern“ ist ein unglaublich spannender und dichter Roman. Auf etwas mehr als 300 Seiten beschreibt Olga Grjasnowa in vielen Details das vergessene Syrien, die ersten Demos, den blutigen Krieg und schließlich die Flucht ihrer ProtagonistInnen. Das Tempo scheint manchmal zu hoch. Zu groß ist der Umfang der geschilderten Ereignisse, doch diese Kette von unglaublichen Geschichten verleiht dem Roman einen realistischen Stil. Fiktion und Fakten vermischen sich. Dabei war Olga Grjasnowa selbst niemals in Syrien. Der Roman ist das Produkt einer genauen Recherche und ausführlicher Gespräche mit Flüchtlingen.

Dass sie mit Hammoudi und Amal zwei privilegierte ProtagonistInnen ausgewählt hat, macht die Geschichte besonders beklemmend. An ihrem Schicksal wird deutlich, dass der Krieg vor niemandem Halt macht und dass auch Geld, Einfluss und Macht nicht unbegrenzt sind. Der Roman ist eine Erinnerung an ein Syrien, das es so vielleicht nie wieder geben wir,d und eine wichtige Auseinandersetzung mit einem der blutigsten Konflikte unserer Zeit.

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