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alt-J

Christian Lehner

Relaxer

Das Trio alt-J aus Leeds hat keine Ahnung, warum es so erfolgreich ist. Auch auf dem dritten Album „Relaxer“ wird das Geheimnis nicht gelüftet.

Von Christian Lehner

Stellt euch vor, ihr seid auf der Autobahn unterwegs und plötzlich taucht eine riesige Wasserlacke vor euch auf. Ihr rast ungebremst rein und der Wagen beginnt langsam zu schwimmen. Genau das ist alt-J Sänger Joe Newman passiert. Die Schrecksekunde war ihm Inspiration für den Song „Hit Me Like A Snare“.

Es hat nicht lange gedauert, dann war der Wagen wieder in der Spur. Ich glaube, solche Momente kennt jeder, der gelegentlich auf Autobahnen unterwegs ist. Alles geht sehr schnell und doch hat man das Gefühl, dass man seinem eigenen Leben in Zeitlupe zusieht. Vor lauter Schreck ist mir der Satz „Fuck my life in half!“ entfahren, der es in die Lyrics geschafft hat.“

Es ist ein sonniger Vormittag in Berlin und alt-J sitzen mir sichtlich geschlaucht in einem klinisch weißen Konferenzzimmer ihrer Plattenfirma gegenüber. Man merkt schnell, dass Promo nicht die Gummibärchen-Packung ihrer Karriere ist. „Ich hasse Interviews“, sagt Joe und weiß doch, dass er sie geben muss. Die Atmosphäre ist dennoch nicht feindselig. Im Gegenteil. Die Offenheit von Joe Newman (Gesang), Gus Unger-Hamilton (Synths) und Thom Green (Schlagzeug) wirkt im Gegensatz zu der bemüht amikalen Atmosphäre vieler Interviews erfrischend.

Das ultimative alt-j Interview

Zerrissen wie die Welt

alt-J sind eine Ausnahmeerscheinung in der Popwelt der Zweitausendzehnerjahre. Als Studentenband in Leeds gegründet, haben alt-J mit ihren beiden ersten Alben „An Awesome Wave“ (2012) und „This Is All Yours“ (2014) – laut Plattenfirma - zwei Millionen Alben verkauft und über eine Milliarde Streams generiert. Das vom Quartett auf ein Trio geschrumpfte Outfit verkauft mittlerweile nicht nur Stadien wie den Madison Square Garden in NYC aus, sondern auch Konzerthallen in Israel, Indien und Südamerika.

alt-J

Gabriel Green

Joe, Gus und Thom wissen selbst nicht, warum ausgerechnet sie es sind, die von den sperrigen Rändern der Popmusik direkt in das Herz des Mainstreams vorgedrungen sind. Offensichtlich treffen alt-J einen Nerv, den viele ebenso schrecklich bemühte Indiebands verfehlen. Bemüht bis anstrengend sind die drei nämlich schon. Das bezieht sich allerdings nicht auf ihr Karriere-Design, sondern auf die Musik selbst.

„Wir haben 20 klassisch geschulte Gitarristen simultan die Gitarrenparts von „House Of The Raising Sun“ spielen lassen“, erzählt Joe zum Beispiel ungerührt und weckt dabei die schlimmsten Befürchtungen eines auf Koks durchgeknallten Studiofreaks der Siebzigerjahre. Doch alt-J sind eher die Hipster-Kids, denen man vielleicht ein bisschen zu viel Spielzeug gekauft hat. Gus bekennt, dass seine Band bereits auf dem Vorgängeralbum den Plan gefasst hatte, den durch The Animals berühmt gewordenen Folk-Klassiker zu covern. „Wir haben uns damals aber noch nicht getraut“, sagt er, „Jetzt haben wir.“

alt-J cover Relaxer

Infectious

„Relaxer“ von alt-J ist auf Infectious/Pias erschienen.

alt-J treten am 20.Juli am Out Of The Woods Festival in Wiesen auf.

Mehr Infos: alt-J

Warum bleibt allerdings ebenso ein Rätsel wie weshalb. Das Cover kommt ambitionslos wie ein leichtes Lüftchen angeweht. alt-J haben den Song entkernt. Die schwitzenden Körper haben das Bordell verlassen, ein Geist schwebt über dem Sündenpfuhl, plötzlich biegen die Lyrics ab, sie verlassen den Weg des Originals und verfallen in eines dieser Mantras, für die alt-J auch stehen: „It’s a happy happy happy happy fun day day”.

Das neue Album „Relaxer“ ist wie ein Tag im Internet. Es wird durch die unterschiedlichsten Musikstile, Film- und Literaturzitate gesurft, doch ohne große Hast. Emotionen werden verdichtet und zerdehnt, natürlich auch Songstrukturen und Arrangements. Weltschmerz, Sinnsuche und Tagträume zerfließen mit Zoten, derben Flüchen und Kalendersprüchen.
Radiofreundliche Hits wie „In Cold Blood“ (Truman Capote Zitat) reihen sich an Düsterfolk mit Kopfstimme („3WW“), heiseren Garagen-Rock („Hit Me Like A Snare“) und bei Filmmusik anklopfenden Instrumentalpassagen, die dann auch tatsächlich mit einem Orchester samt Kinderchor eingespielt wurden („Pleader“).

Was alt-J davor bewahrt, ein weiterer Radiohead-Wiedergänger zu sein (die Vorbilder werden im Song „Hit Me Like A Snare“ zitiert), ist die hörbare Nähe zu der flirrenden Hitze und dem Wüstenstaub amerikanischer Roots-Musik. Der Blues verleiht der englischen Nickelbrille Swagger. Dazu Gus: „Wenn man mit Pop aufwächst, dann ist die amerikanische Popkultur fast so etwas, wie eine zweite Staatsbürgerschaft. Klar fließt das ein in unsere Musik.“

Obwohl alt-J wie gemacht scheinen für eine unterforderte Fachpresse, fragen sich dennoch viele KritikerInnen, wo sich denn hinter all dem Brimborium gute Songs versteckt haben könnten. Dabei ginge es der Band einzig und allein um das, so Joe: „Was ist Erfolg? Man ist doch immer nur so gut, wie die Songs, die man schreibt. Es gibt nichts, was uns mehr Freude bereitet. Und ich bin davon überzeugt, dass das auf „Relaxer“ rüberkommt.“

alt-J scheinen künstlerisch auch weiterhin unbeeindruckt von ihrem Erfolg. Mit den unterschiedlichen Stimmungen und Ansätzen wirkt „Relaxer“ so zerissen wie die Welt, in der das Album entstanden ist. Vielleicht ist das ja das Geheimnis ihres Erfolges.

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