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Gabriel Garcia Marquez

AFP PHOTO / Yuri CORTEZ YURI CORTEZ / AFP

Wiederholung als Schicksal

Der kolumbianische Roman und Weltbestseller „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez wird heute, am 8.6. 2017, fünfzig Jahre alt. Zum Jubiläum erscheint eine deutsche Neuübersetzung. Zeit, die monumentale Geschichte (erneut) zu lesen.

von Christian Pausch

Ich muss zugeben, ich habe „Hundert Jahre Einsamkeit“ - und zwar die (seit heute) alte Übersetzung ins Deutsche – erst letztes Jahr zum ersten Mal gelesen. Auf die Idee gebracht hat mich die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, die in einem Interview, auf die Frage welches Buch sie selbst gerne geschrieben hätte, antwortete: „One Hundred Years of Solitude. I think it’s glorious.“ Und was soll ich sagen, sie hat Recht.

Menschen, die in den letzten fünfzig Jahren eine kolumbianische Schulbank gedrückt haben, werden jetzt vermutlich kollektiv die Augen rollen, steht das Buch dort immerhin am Lehrplan. Und wenn nicht dieses, dann ein anderes des Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. In Kolumbien und eigentlich im gesamten Spanisch-sprechenden Raum kommt man an Márquez praktisch nicht vorbei. Seit der Ersterscheinung von „Hundert Jahre Einsamkeit“ 1967 gilt das auch für Europa und das ist gut so, denn es würde uns ein reichhaltiges Œuvre fehlen.

Der Autor

Gabriel García Márquez hat nicht nur Romane, sondern auch viele Reden, Streitschriften und journalistische Beiträge veröffentlicht. Er war bis zu seinem Tod 2014 bekennender Sozialist und das Politische ist auch in seinen fiktiven Werken nicht wegzudenken. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“ (1961), „Von der Liebe und anderen Dämonen“ (1994), „Der Herbst des Patriarchen“ (1975) und auch „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (1985), der mit Javier Bardem in der Hauptrolle verfilmt wurde. Außerdem ist Gabriel García Márquez wohl der populärste Vertreter des magischen Realismus in Lateinamerika, eine literarische Form, die das Wunderbare, das Fantastische, eben das Magische mit dem Alltäglichen verbindet.

Ein modernes Beispiel für magischen Realismus made in Austria ist „Die Sprachlosigkeit der Fische“ von Margit Mössmer, erschienen bei Edition Atelier, 2015.

In Kolumbien wird derzeit die Frage in den Raum gestellt, ob dieser magische Realismus der lateinamerikanischen Welt noch gerecht wird, ob man sich davon noch repräsentieren lassen will, oder ob man damit das Bild Südamerikas nicht zu sehr verklärt und eben aus der oft gewaltsamen und oft viel zu realen Realität viel zu weit heraushebt. Eine Diskussion, die übrigens schon in den 1940er-Jahren begonnen hat, lange vor García Márquez’ ersten Romanen, gerade aber neuen Wind bekommt, auch aufgrund des Jubiläums von „Hundert Jahre Einsamkeit“. Beim Lesen allerdings sorgt dieser literarische Stil immer noch für Momente, in denen man das Buch kurz zur Seite neigt und ziellos in die Ferne starrt, um das magische Bild festhalten und abspeichern zu können...

Wenig später, als der Schreiner für den Sarg Maß nahm, sahen sie durch das Fenster einen Rieselregen aus winzig gelben Blüten fallen. In einem stillen Schauer fielen sie die ganze Nacht auf das Dorf, bedeckten die Dächer, blockierten die Türen und erstickten die Tiere, die im Freien schliefen. So viele Blüten fielen vom Himmel, dass am Morgen die Straßen von einer dichten Schicht bedeckt waren, die man für den Leichenzug mit Schaufeln und Harken abräumen musste.

Die Story

Es wird geliebt, gelebt und vor allem gestorben in „Hundert Jahre Einsamkeit“. Die Geschichte folgt über sechs Generationen der Familie Buendía, einer der Gründungsfamilien des fiktiven Dorfes Macondo. Úrsula, die Matriarchin, wird tatsächlich weit über hundert Jahre alt und ist dazu verdammt, die immer gleichen, fatalen Fehlentscheidungen einer jeden Generation ihrer Familie zu beobachten und mitzuerleben. Am Ende erkennt sie und erkennen auch wir, dass sich alles - und zwar wirklich alles – immer wiederholt, so sehr man auch versucht, auf andere einzuwirken. Man bleibt machtlos und einsam. Eine Einsicht, die aber im Bestfall auch so etwas wie inneren Frieden bringt.

Am Gründonnerstag lag Úrsula morgens tot im Bett. Als man ihr das letzte Mal beim Berechnen ihres Alters geholfen hatte, noch zu Zeiten der Bananengesellschaft, war sie auf hundertfünfzehn bis hundertzweiundzwanzig Jahre gekommen. Sie wurde in einem Kistlein begraben, das kaum größer war, als das Körbchen in dem man Aureliano gebracht hatte, und es kamen nur wenige Leute zur Beerdigung, teils, weil sich nicht mehr viele an Úrsula erinnert, teils, weil die Hitze an diesem Mittag so groß war, dass die verstörten Vögel wie Querschläger gegen die Mauern prallten und die Fliegengitter der Fenster durchbrachen, um in den Schlafzimmern zu sterben.

Buchcover "100 Jahre Einsamkeit"

Kiepenheuer&Witsch

Gabriel García Márquez - „Hundert Jahre Einsamkeit“, Neuübersetzung von Dagmar Ploetz, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 2017.

Die Einsamkeit im Titel bezieht sich aber nicht nur auf die handelnden Figuren, sondern auch auf das Dorf in dem sie leben: abgeschieden vom Rest der Welt, wird es die meiste Zeit einfach vergessen, oder – wenn es nicht vergessen wird - als Spielball derer benutzt, die eh schon zu viel Macht haben. Ein Schelm wer darin Kolumbien oder gar ganz Südamerika erkennen will. Die Buendías und ihre Schicksale mögen zwar erfunden sein, doch die realen Ereignisse, wie tatsächliche Kriege und Wechsel aller möglichen Herrschaftsformen, holen sie immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Vermutlich ist der gesamte Roman der größte jemals angewandte magische Realismus, da sich trotz der Fiktion der Story, die gesamte reale Geschichte Kolumbiens herauslesen lässt.

Die Übersetzung

Márquez wäre am 6. März neunzig Jahre alt geworden. Zu seinem 80er – also vor zehn Jahren - ist die letzte von ihm selbst überarbeitete Version von „Hundert Jahre Einsamkeit“ auf Spanisch erschienen. Das Buch war fast bis zum Tod des Autors in ständiger Veränderung, auch wenn es sich meistens nur um kleine stilistische Verbesserungen gehandelt hat. Die deutsche Übersetzung allerdings hat sich bis heute an der Erstausgabe orientiert.

Ein Umstand, der nicht mehr zeitgemäß war. Immerhin hat sich auch der Zugang der Lesenden und auch unser aller Wissen verändert. 1970, als das Buch erstmals auf Deutsch erschien, war das Internet für den privaten Gebrauch noch in weiter Ferne und das Wissen über Lateinamerika noch viel begrenzter. So wurden z.B. spanisch-stämmige Fremdwörter, die heute allgegenwärtig sind, in der Neuübersetzung beibehalten, während sie in der Erstübersetzung noch mühsam und blümerant umschifft bzw. erklärt werden mussten.

Ob man die neue Übersetzung lesen muss, obwohl man die alte bereits gelesen hat, liegt im Ermessen jedes*jeder einzelnen. Sollte man „Hundert Jahre Einsamkeit“ allerdings zum ersten Mal lesen, ist die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz sicher die bessere und zeitgemäßere Wahl.

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