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Matt Damon bei einer Pressekonferenz

La Biennale di Venezia

Filmfestspiele Venedig

Sci-Fi-Satiren und Monstermärchen

Die Filmfestspiele in Venedig sind eröffnet. Matt Damon ist geschrumpft! Und ein unsentimentaler Abgesang auf Nico ertönt.

Von Petra Erdmann

Jahrelang war man mit Aufräumarbeiten vor dem Palazzo di Cinema am Lido beschäftigt. Das Gelände hatte den Schick eines Freiluft-Messestandes mit seinen Container-Kinoboxen. Es wurde sogar über offene Asbest-Baustellen gemunkelt. Nun pflastert ein weißer Steinteppich den zehntägigen Weg der Cineasten in die Vorführsäle. Dort fährt der internationale Wettbewerb eine hochkarätige Mischung aus Autorenkino und Mega-Produktionen auf: Darren Aronofsky, Guillermo del Toro, George Clooney, Takeshi Kitano, Ai Weiwei, sie alle und noch mehr zeigen ihre neuesten Werke. Das Ringen um die Goldenen und Silbernen Löwen, den hat am Mittwoch Abend US-Regisseur Alexander Payne („Sideways“) eröffnet.

Seine schwarze Komödie „Downsizing“ ist sauber ausgefallen. Vielleicht zu brav, auch in seiner Übererfüllung an überdrehten Klischees in der Wohlstandsgesellschaft. Die dystopische Sci-Fi-Satire über den selbstsüchtigen globalen Mittelstand ist ein amüsanter Auftakt und will doch nicht so richtig glänzen:

Kristen Wiig und Matt Damon in "Downsizing"

La Biennale di Venezia

„Downszizing“

Ein Durchschnittsehepaar aus dem amerikanischen Mittleren Westen – Kirsten Wiig (super!) und Matt Damon (super normal)– wollen sich mit einer neuen wissenschaftlichen Methode auf rund 10cm verkleinern lassen. Das neue Leben verkleinert den ökologischen Fußabdruck rasant, spart Geld und verhilft zum leistbaren Luxus. Weltweit entstehen gated communities in Miniaturformat. Nach dem Schrumpf-Prozess werden die Menschen mit Kuchenschaufel ins sorgenfreie „Leisureland“ befördert. Doch die nächste Parallelgesellschaft lässt nicht lange auf sich warten.Fantastische Sidekicks wie Christoph Waltz (als durchgeknallter serbischer Schmuggler) und Udo Kier (als gekränkter Playboy) stehlen Matt Damon bald auch die große Show.

Matt Damon, der extra angereist ist, bedankte sich bei seinem Regisseur Payne für dessen Präzisionsarbeit. Die kann schon in 20 bis 30 Takes pro Szene gipfeln, die dann auch alle im fertigen Film landen. Was Damon über seinen Regisseur und Buddy George Clooney zu sagen hat, wird sich am Samstag weisen. Da feiert die Krimikomödie „Suburbicon“ Weltpremiere. Das Drehbuch stammt von den Coen-Brüdern.

Festivaldirektor Alberto Barbera beweist seit Jahren, dass er mit der Auswahl seiner Eröffnungsfilme die Oscargewinner im Februar schon wieder alt ausschauen lässt. Nach „Birdman“, „Spotland“ und „La La Land“ könnte mit „Downsizing“ das Gesetz der Serie gebrochen werden. Seine Rechnung, die alte Tante Venedig mit 74 Jahren das älteste Filmfestival der Welt – mit einer Visionsspritze aufzupeppen, scheint aber auch heuer ungebrochen.

Das siebte Jahr schon hält Barbera sein Programm konstant auf hohem Niveau und das mit einem guten Riecher für die Entwicklung in der Branche. Mit Todd Haynes´ HBO Mini-Drama-Serie „Mildred Pierce“ war Barbera 2011 der Vorreiter unter den A-Filmfestival-Leitern. Er schätzte das avancierte Format der Fernseh-Dramaserien als qualitative Realität ein, die auch im Kino süchtig machen soll. US-Pay-TV-Konzerne und Online-Plattform-Kinofilmproduzenten wie „Netflix“ hat der Alberto Barbera gestern bereitwillig zu Partnern erklärt und nicht wie sein Direktor-Kollege aus Cannes Thierry Frémaux zu Geburtshelfern für das unabhängige Kino-Sterben. Mit einer neu installierten VR (Virtual Reality)-Filmreihe dreht Venedig auch am Trend-Rad wieder einen Zacken weiter.

Guillermo del Toros kalter Krieg

Schaurig, schön und smart hat der mexikanische Fantasy-Meister Guillermo del Toro („Pan’s Labyrinth“) aus einem Kalten-Krieg-Stoff ein Monstermärchen gezaubert. In „The Shape of Water“ hält die US-Regierung in einem unteririschen Hochsicherheitslabor 1962 ein mannsgroßes Wasserwesen zu Forschungszwecken. Stumm und nicht weniger isoliert versieht in der Einrichtung Sally Hawkins ihren Dienst als Putzfrau und verliebt sich in den Reptilienmann in Ketten. Was mit einer Überdosis an Alexandre Desplats orchestraler Untermalung beginnt, und zunächst fürchten lässt in der zu fabelhaften Welt einer Amelie gelandet zu sein, ist eine komplexe und subversive Parabel auf In- und Outsider in einem System.

Michael Shannon in "the shape of water"

Fox Searchlight Pictures

„The Shape of Water“

„The Shape of Water“ ist eine bilderstarke Anspielung auf die erstickte Sexualität und rücksichtslose Perversion der Mächtigen wie man besser den Kalten Krieg mit Sinnlichkeit nicht updaten könnte. Die alleinstehende Elisa (Sally Hawkins) masturbiert in der Badewanne. Der tyrannische Beamte Michael Shannon foltert das wundersame Mischwesen und sorgt sich um seinen „Pussyfinger“, den ihn die intelligente Kreatur abgebissen hat. Mit Ausschnitten aus Hollywood-Musicals der 50er Jahre baut Del Toro eine fantastische Realität. Die Flucht in die Traumwelt und der übersinnliche Glaube an die unwirkliche überwindet die Bestialität von restriktiven Regimen. Das ist Guillermo del Toro mit seinem bestechenden Wettbewerbsbeitrag vollauf gelungen.

“My Heart is empty”

Der eiserne Vorhang und eine düstere politische Grundstimmung hatte in den 80er Jahren auch den musikalischen Underground erreicht. In abgerockten europäischen Clubs erfindet sich Nico, die deutsche Ikone aus Warhols Factory auf einer Konzerttour mit eigenen Songs neu. Die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli hat die Dänin Trine Dyrholm in die Rolle der fixenden, übergewichtigen Nico in der Dauerkrise gesteckt. Nico kämpft damit, ihre Vergangenheit und Image mit „Velvet Underground“ endlich abzuschütteln und ihren suizidären Teenagersohn Ari am Leben zu halten.

Szenenbild aus Nico

Trine Dyrholm

„Nico, 1988“

Nico wohnt zur kargen Untermiete in Manchester. Sie schleppt ein übergroßes Aufnahmegerät herum, mit dem sie den Sound ihrer Therme im Badezimmer für ihre field recordings Sammlung verwendet. „Nico, 1988“ ist ein Bio-Picture des letzten Lebensjahres vor Nico und der Eröffnungsfilm in der Nebenschiene „Orrizonti“. Die Filmemacherin hat im Umfeld der Sängerin recherchiert. In „Nico, 1988“ dominiert ein theatralischer Fernsehstil, unterbrochen von Jonas Mekas´ Orginalfilm-Ausschnitten aus der „Factory“. Eines muss man der Filmemacherin Nicchiarelli und ihrer Hauptdarstellerin Dyrholm zu Gute halten: Keine der beiden arbeitet sich an einer filmischer Imitation oder Authentizitätsgesinne einer Legende ab. „Nico, 1988“ ist eine unsentimentale und lose Neuinterpretation einer ungewöhnlichen Künstlerin.

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