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Wolf-Silhouette vor einem Vollmond

C00, public domain

Ein kluges Biest

Der deutsche Schriftsteller Jakob Nolte brilliert mit seinem zweiten Roman „Schreckliche Gewalten“. Er war damit auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017 vertreten.

Von Lisa Schneider

Eines nachts (...), als ein Mond voll erleuchtet am Himmel stand, erblickte ihn die Mutter von Iselin und Edvard Honik, war erfasst von seiner Sanftmut, verwandelte sich in ein wölfisches Wesen, biss ihrem Gatten den Nacken durch, zerfleischte Teile seines Oberkörpers und schlief wieder ein.

Das sind die ersten Zeilen aus Jakob Noltes zweitem Roman „Schreckliche Gewalten“ der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Was danach kommt, ist keine moderne Horror-Story mit geradliniger Plot-Line und Hauptcharakteren. Sondern sind viele verschiedene Geschichten, die verfolgt werden. Jakob Nolte arbeitet sich ab an seinem Netz aus Verrückten, Verwandelten, Liebenden und Verschmähten. Es ist wie im Zirkus: die Zuckerwatte schmeckt süß und man ahnt noch nicht, welches Scheusal als nächstes durch den brennenden Reifen springt.

Werwolf-Zwillinge und andere Biester

Iselin und Edvard, die Werwolfskinder, entscheiden sich für getrennte Leben, nachdem ihre Mutter eben mal so den Vater zerfleischt hat.

Jakob Nolte

Rachel Israela

Jakob Nolte, geboren 1988, wuchs in Deutschland, in Barsinghausen am Deister, auf. „Schreckliche Gewalten“ ist sein zweiter Roman, außerdem hat er schon mehrfach prämierte Theaterstücke geschrieben.

Iselin gründet mit den Bewohnerinnen einer WG eine Guerilla-Gruppe, die „Mädchen im System“. Sie inszenieren Flugzeugabstürze und sexuelle Übergriffe, sie wehren sich gegen alles und jeden und wollen dadurch vor allem die Freiheit aller erreichen. In leisen Momenten, klug platziert, schimmert aber durch, dass es jeder Person - natürlich - nur um sich selbst geht. In Wahrheit ist alles für sie mehr eine Art Experiment, herauszufinden, wer sie selbst sind.

Sie hatte wohl schon mit 13 Jahren einen Ohrring und ein geregeltes Sexleben. Was ihr im Nachhinein als viel zu früh erschien. Denn der eine Ohrring führte zu noch einem und zu noch einem (...)

Edvard will Norwegen verlassen, zieht in einer Art Kommune durch die Sowjetunion, er will nach Afghanistan. Seine animalischen Wurzeln werden ihn später einholen, anders als die Mutter zieht es ihn aber in die Lüfte. Er wird zum dämonisch-futuristischen Raubvogel.

Und denkt man, verrückter geht nicht, schaltet sich Sofia ein, die sich vorgenommen hat, die Werwölfin zu schnappen, die auf ihrer Flucht schon zu viele Menschen getötet hat. Dem Charme halber ist besagte Sofia ist natürlich auch kein „normaler“ Mensch.

In ihrem Brustkorb lebte eine Art Insekt. Ein Tier, das weitaus intelligenter als Mensch und Seehund. Dieses Tier beherrschte die norwegische Sprache und konnte so mit Sofia kommunizieren. ES hatte die Form eines Herzens und sein Körper imitierte die Funktionen eines Herzens, mit dem einzigen Unterschied, dass es sich seiner selbst bewusst war und dass Zusammenziehen und Entspannen der Herzkammern kein Reflex, sondern ein willentlicher Vorgang waren.

Dass die Geschichte in den Siebzigern spielt, ist für die verquere Handlung so gut wie unwichtig, tritt aber an manchen Stellen trotzdem kurz in den Vordergrund. Die Olympischen Spiele 1972 und die Angriffe der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ werden erwähnt, auch die Japanische Rote Armee. Politisch will der Roman nicht sein: die geschichtlichen Daten sind eben einfach nur die zeitlichen Umstände, in denen die Figuren weniger lustlos, sondern eher erfolglos durchs Leben gaukeln.

Wikipedia ad absurdum

So erleidet in Noltes Roman jede Person ihr eigenes Schicksal. Die Figuren sind Marionetten, der Autor schwebt über allem und dirigiert. Seine Allwissenheit präsentiert er als Draufgabe und besserwisserischen Beweis gern ausführlich in diversen Einschüben. Er erzählt, wie Bourbon Whiskey mit Bourbon Vanille zusammenhängt, oder, wie man Ikonoklasmus heute zu verstehen hat:

Cover "Schreckliche Gewalten" von Jakob Nolte

Matthes & Seitz Berlin

Mit „Schreckliche Gewalten“ stand Jakob Nolte auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017. Der Roman erscheint via Matthes & Seitz Berlin.

Nebenbei ist die am wahrscheinlich weitesten verbreitete und köstlichste Form des Ikonoklasmus die Verachtung und der Wunsch nach der endgültigen Vernichtung der deutschen Tageszeitung Die Bild.

Es sind diese Einschübe „unnützen“ Wissens, die in direktem Zusammenhang mit der Absurdität der Geschichte stehen. Viele scheinbar wissenschaftlich belegte Fakten werden um ein „oder doch nicht“ ergänzt. Was können wir schon wissen? Zumindest können wir glauben, und wenn es nach Jakob Nolte geht, immer lieber an das Schlimmste.

Die Aufschrift REGINA TREMENDAE MAJESTATIS stand nun in einem perfekten Kreis um ihre linke Brust (sie hatte eher kleine Brüste, sodass man die Brust nicht anheben musste, um den unteren Teil der Inschrift lesen zu können). Was auf Norwegisch „Königin schrecklicher Gewalten“ heißt und einem Song namens Dies Irae entliehen war, der auf einem mittelalterlichen Hymnus von (wohl) Thomas von Celano beruht, den sie aber nur von Guiseppe Verdi kannte, der ein italienisch-romantischer Komponist war.

Genauso trocken, wie die Sprache ist, endet die Geschichte der Zwillinge. In einer Art Nachwort gibt es noch eine kleine Abschlusserzählung. Und wie um die Schrägheit noch ein letztes Mal zu bemühen, sind es jetzt Hyänen-Zwillinge, die wir kurz beim Bestreiten ihres miesen Lebens begleiten. Es endet nicht schön und in der Tragik liegt die Komik. Absurder, abstruser, elegant formulierter, herrlicher Quatsch und viel Flunkerei, aber wen soll das stören. Es ist, was es eben ist: eine gute Geschichte.

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