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Artist Of The Week

Die bemerkenswerte Karriere des Benjamin Clementine

Benjamin Clementine ist ein absolutes Ausnahmetalent - und der FM4 Artist Of The Week. Der Brite mit westafrikanischen Wurzeln veröffentlicht nun sein neues Album.

Von Eva Umbauer

Musik hat ihm eine Stimme gegeben. Aber Musik war als Kind für ihn verboten, Popmusik zumindest. Seine aus dem westafrikanischen Ghana stammende katholische Großmutter, mit der das Kind Benjamin lebte, hörte in ihrer Wohnung in London ausschließlich Gospelsongs. Benjamin Clementine war ein Teenager als die Oma starb und er wieder zu seinen Eltern zog, als jüngstes von fünf Geschwistern. Vom Gospel kam er zur Klassik, dann erst zu allem Anderen, das als Popmusik zusammengefasst werden könnte.

Albumcover "I tell a fly" von Benjamin Clementine

Universal Music

Kapuzensweater waren in der Familie von Benjamin Clementine ebenso verpönt wie weite, herunterhängende Hosen. Der Vater zerschnitt sie und kaufte den Kindern stattdessen in Second Hand Kleidergeschäften alte Anzughosen und Sakkos, schließlich sollte seine Kids auf der Straße niemand für möglicherweise Kriminelle halten, dort in Edmonton, im Norden von London, einem armen Arbeiterviertel im Bezirk Enfield.

Die örtliche Bibliothek und das Piano zuhause, oben im ersten Stock, machten alles erträglich - sein Außenseitertum in der Schule, das Anders-Sein. Aber dann trennten sich die Eltern. Benjamin ging fort, erst zu Freunden, dann, nach einem Streit, nach Paris, einfach so, weil es die nächste große Stadt war.

Eigentlich, so war der Plan, sollte und wollte er ja Rechtswissenschaften studieren. Sein Geld war aufgebraucht, es hatte für das Flugticket gereicht, aber nicht mehr für den Busfahrschein zum Flughafen. Der Fahrer aber war nett und nahm den schlaksigen jungen Mann mit den markanten Gesichtszügen schließlich einfach so mit, nachdem ihm dieser erzählt hatte, dass er dringend nach Frankreich müsse, weil er dort Familienmitglieder habe und jemand krank sei. Flunkern in der Not.

London - Paris und zurück

In Paris spielt Benjamin Clementine mit seiner Gitarre erst auf der Straße, dann in Bars und Pubs. Zum Teil schläft er auf der Straße, ist obdachlos. Bis er, wie er später sagt, auf „ein paar gute Menschen“ traf. Es war in Cannes, wo er spielte, als gerade das Filmfestival stattfand, und sich ein paar Menschen zusammentaten um ein Plattenlabel zu gründen, damit die Musik dieses jungen Briten doch veröffentlicht werden könnte. Dann folgte schon rasch ein richtiger Plattenvertrag und Benjamin Clementine war plötzlich ein Star, samt gefeiertem Debütalbum „At Least For Now“ und Auszeichnungen wie dem britischen Mercury Music Prize oder dem ebenso renommierten französischen Musikreis Victoires de la Musique.

Benjamin Clementine wird von Designern eingekleidet und gebeten bei Modeschauen in der ersten Reihe zu sitzen. Der Burberry Mantel steht ihm gut. Er ist eine gar wundersame Figur, wie von einem Bildhauer aus Stein gemeißelt und dann zum Leben erweckt. Benjamin Clementine, der englische Soulman, der an den schwarzen Mod aus dem Spät-70er-Jahre Spielfilm „Quadrophenia“ - über die englische Subkultur der Mods - erinnert. Dass die Menschen von seiner Geschichte so fasziniert sind, einer Art modernen Aschenputtel-Story, stört Benjamin Clementine aber dann doch fast ein wenig, weil die Geschichte beinahe seine Musik überschattet, wie er meint. Seine Musik, die so eigen ist, so old-school, aber auch so im Hier und Jetzt, mit dieser Stimme, die so einzigartig ist, an große Künstler und Künstlerinnen aus der Vergangenheit wie etwa Nina Simone erinnert, oder auch an Billie Holiday, und die die Menschen berührt.

Music Gave Me A Voice

Benjamin Clementine ist der barfüßige Song-Poet, der eine Meinung hat und diese in seinen Songs artikuliert, und von dem alle ein Stückchen haben wollen. Der schwarze Bub aus Nordlondon, der eine Art englischer Jacques Brel für die Gegenwart ist. „Music gave me a voice“, sagte Benjamin Clementine einmal. Eine Stimme, die ohne seine Musik nie so oder gar nicht gehört worden wäre. Nein, aus Benjamin Clementine ist kein Hip Hopper geworden, kein Grime-Künstler oder Piratenradio-Moderator, kein neuer Dizzee Rascal, sondern ein Songwriter und Performer von einer Sorte wie die Musikwelt sie heute eigentlich gar nicht mehr hervorbringt.

Auch John Cale von The Velvet Underground vermeint man bisweilen in den Songs von Benjamin Clementine zu hören, oder auch Nick Cave und Tom Waits. Letztere beide sind große künstlerische Helden von Benjamin Clementine, der aber etwa auch den wortgewaltigen französischen Songwriter Léo Ferré („Avec Le Temps“) verehrt. Die große Bedeutung von Songtexten hat er in Frankreich erfahren, reicht doch zuhause in Großbritannien oft schon eine hübsche Melodie für einen erfolgreichen Song. In Frankreich, weiß Benjamin Clementine: „They love a good story“.

Heute ist Benjamin Clementine wieder zurück in London, nachdem er einige Monate in den Vereinigten Staaten verbracht hat. In New York war er, aber auch an anderen Orten in den Staaten. Benjamin Clementine bereiste die USA, etwa auch Arizona und fand in diesem US-Bundesstaat einen Lieblingsort. Überhaupt geht es im neuen Album „I Tell A Fly“ um das Reisen, das Umherziehen, das Wandern, das Migrieren. „We are all wanderers“, sagt Clementine im FM4-Interview. Letztlich sind wir alle alle Suchende.

Wanderers

Mit der Zeile ‘An alien of extraordinary abilities’ fing diesmal bei Benjamin Clementine alles an: Auf den ersten Blick eine verblüffend ungewöhnliche Zeile, die als Vermerk in Clementines USA-Visum eingetragen war, dann aber sehr schnell die Inspiration für ein Bühnenstück wurde, welches sich letztlich zum neuen Album entwickelte, das sich mit dem Konzept des Fremden, des Migranten, des Unbekannten, des Flüchtlings auseinandersetzt. “I was baffled for about ten minutes when I first saw that visa”, sagt Benjamin Clementine. “But then I thought to myself, I am an alien. I’m a wanderer. In most places I’ve been, I’ve always been different. And so I began to think about the story of a couple of birds, who are in love. One is afraid to go further, and the other one is taking a risk, to see what happens.”

Der erste veröffentlichte Song des neuen Albums heißt „Phantom Of Aleppoville“ und beschäftigt sich mit allen, die gezwungen sind zu „fliegen“. Darin fließt auch Clementines Beschäftigung mit der Arbeit des britischen Psychoanalytikers Donald Winicott ein, der sich ausführlich mit Mobbing und Gewalt im häuslichen Umfeld und vergleichbaren, psychologischen Auswirkungen bei Kriegsflüchtlingen auseinandergesetzt hat. Benjamin Clementine verwendet auf dem neuen Album seine persönliche Geschichte immer wieder als Prisma, durch das er die Welt um ihn herum betrachtet. Dabei sieht er sich gar nicht als politischen Menschen.

„I´m an artist, and first and foremost I´m a human being, and I´m only expressing my opinion.“

God Save The Jungle

Das Songschreiben ging Benjamin Clementine diesmal anders an als in der Vergangenheit: „I learnt how to write in a different way, not totally internally, but in fact taking something that is in fact totally not about me and bringing it to me. This is very hard to do as an artist, so I really had to fight for it eventually cos when I´m writing I like to feel like I´m part of it, and obviously I´m not from Aleppo and I was not in the ‚Jungle‘ in Calais, but I had some sort of a deed to do, which is to take that and to, you know, when I look at poets I love, they in their time wrote about their time, and I felt that it was now or never to re-write a few things about things that are on my mind. So this approach has pushed me to a different place.“

Benjamin Clementine schrieb alle Songs, spielte fast alle Instrumente und produzierte sein neues Album selbst. „I Tell A Fly“ ist ein Konzeptalbum, eine Art Rock-Oper, wenn man so will, so wie Brian Wilson das Album „Smile“ machte oder Serge Gainsbourg das Album „Histoire de Melody Nelson“. Am ersten Album erlebten wir den ‚Rohdiamanten‘ Benjamin Clementine, diesmal erleben wir einen sich künstlerisch weiterentwickelnden Benjamin Clementine.

Damon Albarn ist ein großer Fan von Benjamin Clementine, und so gastiert Letzterer am aktuellen Album der Gorillaz, und zwar beim Song „Hallelujah Money“.

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