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Radovan Dranga

Halbzeit beim 50. steirischen herbst

Drei Wochen zeigt der steirische herbst Kunst. Tanz, Theater, auch die Kombination davon, Ausstellungen und Konzerte. Was bislang geschah: Die beste Powerpoint-Präsentation, der nackte Freakshow-Wahnsinn und das engagierteste Schauspiel von Laien.

Von Maria Motter

Es kann einem ein bisschen anders werden, wenn man daran denkt, dass der steirische herbst diesmal womöglich der letzte in dieser Form sein wird: Im kommenden Jahr übernimmt Ekaterina Degot die Leitung des Festivals. Das wird anders werden und wie anders, das bleibt spannend.

Klass ist bislang besonders die heutzutage für ein Festival geradezu luxuriöse Länge des steirischen herbst: Über vier Wochenenden zieht sich das Geschehen.

„Graz ist zu eng“ ist auf einer Schautafel im GrazMuseum zu lesen. Zurzeit stehen dort auch Schautafeln, die an jeweils ein herbst-Projekt der 50 Festivaljahre in der Ausstellung „Diese Wildnis hat Kultur“ erinnern. Auf einem Foto sitzt der Künstler und Regisseur Christoph Schlingensief auf einem Pfahl am Eisernen Tor: „Künstler gegen Menschenrechte – Chance 2000 für Graz“ fand 1998 statt. Ich will sofort nachhause und wieder Schlingensiefs Buch „Ich weiß, ich war’s“ lesen. Dabei hat er darin nur kurz über die Chance 2000 geschrieben.

„Ich habe immer Sehnsucht nach dem großen Moment. Das Leben rauscht so vorbei, und man kann es nicht festhalten. Beim Theaterspielen ist das anders. Da bleibt die Zeit stehen, und der Moment wird unendlich. Das ist für mich der absolute Flash“, gab Christoph Schlingensief einmal an anderer Stelle zu Protokoll. In Graz hat er damals täglich 7000 Schilling in Zwanziger-Noten an PassantInnen verteilt.

Während des steirischen herbst weitet sich die Stadt. Vorausgesetzt, man gibt sich das bisschen Mühe, im Festivalzentrum vorbeizuschauen und sich eine Karte für eine Vorstellung zu kaufen, die alles andere als Vertrautes verspricht. Diese Persönlichkeiten haben in den letzten Tagen überrascht:

Bester Gschichtldrucker mit fundiertem Wissen: Walid Raad

Walid Raad darf man nicht fotografieren. Ob er eitel ist oder Porträts für zukünftige Recherchen zu heikel wären, darüber kann nur spekuliert werden. Was der Künstler in den Lecture Performances zu seiner Ausstellung „Kicking the Dead“ in Graz erzählt, ist jedenfalls abenteuerlich. Zum Beispiel hat Walid Raad die Vorbereitungen für die Eröffnung des Louvre Abu Dhabi verfolgt. Das „erste Universalmuseum der arabischen Welt, das erste des 21. Jahrhunderts“ nennt der Archäologe und Direktor des Pariser Louvre, Jean-Luc Martinez, die Institution, die am 11. November aufsperren wird.

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Wolf Silveri

Spektakulär ist ein beschämendes Adjektiv für den Bau angesichts der Drohnenaufnahmen, die Walid Raad zeigt. Die Louvre Filiale Abu Dhabi steht auf einer Museumsinsel, die eigentlich Saʿadiyat heißt, die größte natürliche Insel des Emirats ist und eben nicht durch künstliche Sandaufschüttungen geschaffen wurde. Fünf Bauten von fünf Stararchitekten werden hier angesiedelt: Frank Gehry hat die Guggenheim-Filiale entworfen, Zaha Hadid den Performing Arts Centre, Tadao Ando ein Schifffahrtsmuseum und Sir Norman Foster das Sheikh Zayed National Museum. Walid Raad zeigt nicht nur den Louvre Abu Dhabi aus der Vogelperspektive in seiner Lecture, er spielt ein Video ab, das zeigt, wie in den unterirdischen Gängen des Louvre in Paris ein Stapelfahrer Holzschachteln transportiert. Darin verpackt sind Objekte und Kunstwerke, die aus der Sammlung an die Zweigstelle gehen. Äußerst heikel wären diese Transporte und bei den Angestellten unbeliebt. Es fällt der Begriff "face swap“, ein Gesichtstausch wäre passiert.

Allerbeste Powerpoint-Präsentation

Bis dahin ist man dem gebürtigen Libanesen Walid Raad, der als bildender Künstler in New York lebt und sich nicht nur für Kunst, sondern für die mit Sammlungen einhergehenden, nicht uninteressanten finanziellen Interessen und Mächte interessiert, voll gefolgt. Nun also die ersten Transporte von Kunstobjekten und Walid Raad bittet sein Publikum, ihm in einen Nebenraum zu folgen. Dort zeigt er, was er mit „face swap“ meint: Zwei Kunstwerke würden durch den Transport ineinanderfließen, zu einem werden. Raad hat diese Objekte angefertigt. Bis vor einer Minute hat man als ZuhörerIn gedacht: Genau, genau so wird Kunsthandel, ja Kunstraub funktionieren! Aber jetzt ist Walid Raad in seiner Lecture mit beeindruckender Powerpoint-Präsentation, seinem „Walk Through“ durch die Ausstellung, in den Bereich des Fantastischen abgebogen.

Der Mann ist ein großer Geschichtenerzähler, die Recherche zu seiner Performance würde man zu gerne nachlesen. Ob zur Geschichte seiner Universität Cooper Union in New York oder auch jener berührenden Erzählung einer Begegnung mit einem Leichenbeschauer, der die Todesursache nach der Tages- und Nachtzeit festmachen kann. Ab dem Abendessen Mord und Totschlag, in der Nacht die Selbstmorde, tagsüber natürliche Tode. Walid Raad spannt einen weiten Bogen. Die Mind maps zu seinen Recherchen sind exakt über alte Tapetenmuster gelegt, die wiederum über den Tapeten im Palais Attems montiert sind.

Der Ausstellung und dem Walk Through „Kicking the dead“ liegt das Interesse für das in den vergangenen Jahren augenscheinlich werdende Interesse an arabischer Kunst in Institutionen weltweit zugrunde. Wie französische Teppichrestauratorinnen mit einem dringenden Auftrag konfrontiert sind, dem nur eine kryptische, ja poetische Anweisung beigelegt ist, wird man nicht so schnell vergessen. Immobilien-Mogule, Scheichs und Emire sowie Museumsangestellte bilden das Personal in diesen Geschichten, die Verschwörungstheorien beflügeln und derart unterhaltsam sind, dass man sich eine Fortsetzung wünscht. Möglichst bald.

Extrem performen? Ach, kommentiert die Choreografin Florentina Holzinger

Nicht unbedingt schon übermorgen hingegen würde das Premierenpublikum von Florentina Holzinger sich wieder in eines ihrer Stücke trauen. Noch hallen die Eindrücke nach. Die junge Österreicherin ist die aufregendste Choreografin des Landes. Ihre erste Performance hieß „Kein Applaus für Scheiße“. 2011 zusammen mit einem Studienkollegen konzipiert und erstmals aufgeführt, ist das Stück in den letzten Jahren immer wieder gebucht und aufgeführt worden. Stichwort menschlicher Springbrunnen und Körperflüssigkeiten auf der Bühne. „Damals ging es einfach nur um budgetäre Fragen. Wir hatten nicht genug Geld, um unsere Bühne mit allem auszustatten, was wir gerne wollten, deshalb haben wir den Springbrunnen durch uns selber produziert“, so Holzinger im FM4-Interview.

Dass sie schon mal als „Extremperformerin“ bezeichnet wird, entlockt ihr ein wenig begeistertes Ach. „Es gibt wesentlich extremere Leute als mich. Ich bin ziemlich 0815 eigentlich.“ Auf einen skeptischen Blick folgt ein geflüstertes „Ja! Wirklich!“, begleitet von belustigtem Lachen. Dass sie auf der Bühne Sachen mache, die andere privat nicht machen, will sie nicht so stehen lassen. „Das ist eben das große Mysterium: Was machen die Leute im Privaten? Ich glaube, sie machen wesentlich extremere Sachen, als wir auf der Bühne. Aber es geht auch um eine Entmystifizierung dessen, what is supposed to be shown in private and what does it mean to do it in public. Aber ja: Wenn Leute mich fragen, was das Extremste ist, das ich nicht machen würde, sage ich, auf die Bühne zu scheißen und es länger als fünf Minuten dort liegen zu lassen, weil ich sehr geruchsempfindlich bin.“ Dafür, dass sie im Gespräch ab und an ins Englische kippt, entschuldigt sich Florentina Holzinger, aber es ist ihre Arbeitssprache.

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Radovan Dranga

Holzingers Arbeiten erregen Aufsehen, werden als extrem, provozierend und mitreißend bezeichnet. Zu tanzen angefangen hat Florentina Holzinger in ihren Zwanzigern. Eine „krasse Erfahrung in einer kreativen Frauentanzgruppe“ empfand sie als Befreiung. Bald war sie an Form interessiert und auch süchtig nach dem Training. Auf der Bühne ist sie wie ihre Performerinnen für „Apollon Musagète“ nackt bis auf die Spitzenschuhe. Es ist kein sexuell aufgeladener Blick, den Holzinger vorgibt. Die meisten im Publikum sind mit Staunen über die durch und durch trainierten Körper beschäftigt, als sich eine der Frauen auf der Bühne Nägel mit einem Hammer in die Nase schlägt. Augen zumachen hilft nur bedingt. Tock-tock-tock-tock. Florentina Holzinger hat sich eine Sideshow-Performerin für ihre ganz persönliche Fassung des gleichnamigen neoklassischen Balletts „Apollon Musagète“ geholt.

American Sideshow ist der korrekte Begriff, besser als Freak-Show: Das sind Acts, die gemacht werden, um das Publikum anzugrinden und zu unterhalten. „Es ist ein Subgenre von Zirkus und es geht immer um Unterhaltung. You might find this disturbing, you might find this crazy, you might be provoked – maybe you even have to puke because you cannot handle it but you paid for it so you better take your responsibility and enjoy! Und ja, das ist auch immer mein Bezug zum Publikum: Hey, ihr habt das Ticket gekauft und Geld investiert, ihr solltet besser sehr gut unterhalten sein. Und ich versuche auch, das Publikum zu unterhalten.“

„Sechs Frauen, bewaffnet mit Spitzenschuhen und Hanteln, setzen an, um dem allgegenwärtigen neoliberalen Körperkult gehörig zuzusetzen“, heißt es über das Stück. Der Choreografin hat das Narrativ gefallen, dass Apollon sich seine Musen aussucht. Ihre Arbeitsweise sei ähnlich, sie suche sich Leute, die sie inspirieren und mit denen sie arbeiten will. In Minute Drei flüstert eine Besucherin im Publikum, sie wolle das nicht sehen. Doch auf brutale Momente werden noch lustige – wer aus dem Publikum trinkt Gin Tonic aus einem Schlauch, den sich die Sideshow-Performerin durch Nase und Mund gezogen hat? – und dann stille folgen, wenn die Frauen das Originalballett tanzen und erst recht eine Brutalität zum Tragen kommt und zwar jene des klassischen Balletttanzes. Das Schönste an der Performance liegt ihr zugrunde: Es ist die Art und Weise, wie Florentina Holzinger an ihre Arbeit herangeht. Wären es Kuchen, die sie bäckt, so würde sie die auf Tellern auf einen Tisch stellen. Aber ob die Kuchen jemanden auch schmecken, scheint sie nicht weiter zu tangieren.

„Auf den Herrenspagat musste ich hintrainieren, den Damenspagat konnte ich, weil ich als Baby in der Spreizhose war. Deshalb: Ich bin quasi im Spagat aus meiner Mutter herausgekommen“, erzählt Florentina Holzinger. Ihre Mutter war in der Premiere im deutschsprachigen Raum von „Apollon Musagète“ beim steirischen herbst. Wie lässig wäre es, würde etwa das von Igor Strawinsky komponierte Ballett, zu dem George Balanchine die Choreografie geschaffen hat, dieser Tage in der Oper Graz aufgeführt werden. Man hätte jetzt Lust und Interesse, sich das anzuschauen.

Rampensau-Performer! Sie spielen “Die Kinder der Toten“

„I’m a lover, not a hater“, sagt Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma. Mit seiner Partnerin Kelly Copper dreht er einen Stummfilm auf Super-8 nach Motiven aus Elfriede Jelineks „Gespensterroman“ „Die Kinder der Toten“. Und zwar mit einer Hundertschaft an Mitwirkenden! „In der Beschreibung stand, dass man sich als Schaulustige herrichten soll“, sagt Nadja Stipsits. „Ich habe mir gedacht, ich bin eine Hausfrau, die gerade dabei war, sich herzurichten. Darum habe ich einen Bademantel an und noch die Lockenwickler oben. Aber geschminkt bin ich schon.“ Die selbst gewählte Filmfrisur könnte Elfriede Jelinek sehr gefallen.

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Ditz Fejer

Dabei hat Nadja Stipsits noch nichts von Jelinek gelesen, aber die 22-jährige Tapeziererin und Dekorateurin kommt aus Neuberg an der Mürz, da weiß man, dass Jelinek als Kind in der Gegend gewesen ist, und Stipsits ist schauspielerisch interessiert. Jeden Herbst gibt es in ihrem Ort einen „Zauberwald“, einen zweistündigen Rundgang mit Theater für Kinder. Nadja Stipsits spielt im Zauberwald die Hexe. Jetzt ist sie eine jener achtzig Personen von 300, die sich auf einen Aufruf zum Casting gemeldet haben, und tatsächlich mit fixen Rollen beim „Die Kinder der Toten“-Filmdreh dabei sind. Viele andere spielen in größeren Szenen mit.

„Rampensau – yes! But not Über-Rampensau!“, gibt Pavol Liska seinen MitstreiterInnen Rückmeldung zu ihrer Performance, die doppelt wirkt: Einerseits wird gedreht, andererseits schauen etliche zu. „Viel entwickelt sich am Set, weil wir uns gegenseitig aufschaukeln. Dann sagt der Pavol, brilliant, this is what we’re gonna do!“, erzählt Georg Beyer und imitiert Liskas Aussprache perfekt. „Und dann machen wir es einfach! Es ist ein sehr demokratisches, sich gegenseitig befruchtendes Arbeiten. Es ist herrlich!“

Kelly Copper und Pavol Liska haben einen so schönen Zugang zur Welt, weil sie alles nehmen, wie es ist und doch so ein großes Interesse an allem haben. Was sie machen, sei Theater mit und nicht für das Publikum, findet Georg Beyer. „Das, was wir da gemeinsam machen, ist das, was so aufregend und lässig ist!“

Ulrich Seidl will den Film 2018 ins Kino bringen. Mitspielen kann man noch bis 15. Oktober. Bis dahin ist steirischer herbst.

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