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Der Eurostar Zug

PHILIPPE HUGUEN / AFP

Robert Rotifer

Depeche Eurostar

Auch wenn das Drama der britischen Politik momentan mit der österreichischen Farce kaum mithalten kann: Ein paar Notizen zum letzten Stand aus dem Kanaltunnel, bevor sie ihn zumauern.

Von Robert Rotifer

Eigentlich wollte ich die Zeit im Eurostar nützen, um einen Blog über den anhaltenden Wahnsinn in meiner Wahlheimat zu schreiben, aber die Frau in Hörweite kennt keine Gnade. Ich weiß nicht, wie viele Bekannte, Freundinnen oder Verwandte sie in Benidorm, Kroatien bzw. auf Ibiza getroffen oder verpasst hat, aber ich weiß, dass sie dort täglich einen Decaf hatte, dass man da Bier aus der Leitung trinken kann, dass ihre Freundin, die eher unreal sei, während sie Wein aus dem Krug trank, dort diese Typen aufgereizt habe („goading those blokes“), die wirklich jung, also 18 oder so waren (giggle giggle giggle, „Unreal!“ giggle giggle giggle), und dass sie selber ja immer denselben Fehler macht, gleich nach dem letzten Arbeitstag auf Urlaub zu fahren, wo man doch weiß, dass es vernünftig wäre, dazwischen einen Tag Pause einzustreuen, aber dass sie heute auf jeden Fall noch auf ein „nice boozy brunch overlooking the Seine“ gehen will. „But this is me! This is me!“ (Really? No shit...). „And then I’m gonna be hungover.“ Ihre Reisegefährtin freut sich schon darauf.

In der Zwischenzeit sind wir in den Tunnel eingetaucht, und wenn wir auf der anderen Seite des Kanals wieder auftauchen, kann ich meine data allowance nützen, um diese Geschichte zu posten. Weil die EU ja die Roaming-Gebühren weggemacht hat. Ich will hier nicht wie ein EU-Clacqueur rüberkommen, aber wie Joni Mitchell so richtig sang, “you don’t know what you’ve got till it’s gone“. Und wo soll man heute noch sentimental werden, wenn nicht anderthalb Jahre, bevor diese Party endet (Brexit, März 2019), auf Sitz 54 im Wagon 7 des Eurostar nach Paris. Dort, genauer gesagt in der Halle des Blancs Manteaux, soll heute (Samstag) der Marché des Labels Independants stattfinden.

Eine Abordnung britischer Indie-Labels, irgendwo darunter auch yours truly, wird dort auf bescheidenste Art Popkulturexport betreiben. Nur ein kleiner, aber wohlmeinender Abklatsch davon, was die Briten schon seit fünfzig Jahren machen. Damals brauchten les Anglais in Pariser Clubs wie La Locomotive nur ihre Verstärker aufzustellen, und schon verkauften sich die eigenes für den französischen Markt gepressten disques, bevorzugt 4-track-7“-EPs mit exklusivem picture sleeve, wie pain chaud.

Sicher, damals gab es Zölle zu zahlen und Formulare auszufüllen, und vielleicht ist es ja das, was die Generation an heute Brexit-begeisterten Briten, die all das damals miterlebten, so sehr vermisst, dass sie es unbedingt wieder zurück haben wollen. In der Zwischenzeit werden wir Leute von aujourd’hui heuer noch zum vorletzten Mal dem bourgeoisen Paris, das Samstags im Marais abhängt, unser zollfreies Vinyl anbieten und dabei zweifellos wieder ein paar wunderbare, trotz alledem anglophile Leute kennen lernen. Man kann sie gar nicht hoch genug einschätzen, die Anglophilie, von der man als britisches Label oder britische Band auf dem Festland profitiert. And now they’re pissing it all up the wall. Das brauche ich nicht zu übersetzen.

(Aus Hörweite: “And then I’m gonna have a big lunch. And I’m gonna have cheese and bread. That’s it. I feel so guilty! I feel so guilty!”)

A c ntry tha orks or ryon

Ich weiß, ich kann dieser Tage kaum mit euch Österreicher_innen mithalten in Sachen total meltdown auf der politischen Bühne. Und als sich die Tory-Konferenz in Manchester abspielte, hat mir irgendwas gesagt, ich sollte hier nichts über Theresa Mays Hustenanfälle oder die während ihrer erstickten Ansprache von der Deko hinter ihr herabfallenden Lettern schreiben (aus „Building a country that works for everyone“ war bei Konferenz-Ende „Bui ding a c ntry tha orks or ryon“ geworden, und letzteres ist seither auch mein Motto). Schon gar nichts über Boris Johnsons Witzeln, dass Sirte in Libyen ein neues Dubai werden könnte, sobald man „die toten Körper wegräumt“. All das verarscht und diskreditiert sich schließlich von selbst und würde außerdem bald alt aussehen - übersetzt: Ich war nicht schnell genug, es aufzuschreiben/kam nicht dazu/jetzt ist es auf jeden Fall schon zu spät dafür.

Theresa May unter einem Slogan, aus dem schon ein paar Buchstaben herausgefallen sind

PAUL ELLIS / AFP

Da sind erst zwei Buchstaben heruntergefallen

Seither haben sich die Intrigen rund um die britische Regierung schon zweimal in den eigenen Schwanz gebissen. Gestern outete sich der konservative Parlamentarier Grant Shapps als Rädelsführer einer Verschwörung gegen Theresa May. Er habe ungefähr dreißig Kolleg_innen hinter sich, behauptete er. Man muss dazu wissen, dass dieser Typ einmal unter dem Decknamen Michael Green eine dubiose Website betrieben hat, die naiven Kund_innen den Weg zum schnellen Reichtum versprach, was seine politische Karriere unter David Cameron erstaunlicherweise nicht beendete. Das einzige, was für ihn spricht, ist seine Verwandtschaft mit Mick Jones von The Clash (der wiederum kann nichts dafür). Als Shapps im britischen Äquivalent des Mittagsjournals erklärte, dass er sich selbst für fähig halte, den Job der Premierministerin zu übernehmen, war aber schon klar, dass aus diesem Putschversuch auch nichts mehr werden würde.

(Aus Hörweite: “It was great. There was a live band, and then the other bottle of Cava was coming up.”)

Bis zum Abend war es dann so weit, dass eine persönliche Freundin Theresa Mays in den BBC-Fernsehnachrichten die Frage stellte, wer dieser Grant Shapps überhaupt sei (Antwort: immerhin der ehemalige Chairman der konservativen Partei), und heute morgen tweeteten schon alle von den Dächern, dass in der vertraulichen (haha) Whatsapp-Gruppe der konservativen Parlamentsfraktion bereits eine Art Inquisition im Gange sei. Wer nicht beschwört, nicht zur Grant Shapps’ Gruppe der Putschist_innen zu gehören, der oder dem drohen erst die Daumenschrauben, dann die Streckbank. Indessen hat sich bereits die Gegenseite formiert, die nun unverblümt den Kopf des Boris Johnson fordert. Wie gesagt, alles harmlos im Vergleich, dazu, was sich bei euch abspielt. Aber Österreich steuert immerhin nicht darauf zu, sich in 17-einhalb Monaten in einen politisch-rechtlich-ökonomischen Abgrund zu stürzen. Nach wie vor deutet nichts darauf hin, dass sich die Brit_innen oder ihre politische Elite bewusst wären, was da auf sie zukommt. Sie stoßen sich lieber gegenseitig nach Shakespeare-Manier die Theaterdolche in die Wänste. Schon realitätsnaher die walisischen Schafzüchter_innen, die sich bereits besorgt fragen, wie viele Lämmer sie zeugen lassen sollen, weil sie nicht wissen, wie viel Lammfleisch sie nach März 2019 auf ihrem europäischen Exportmarkt anbringen werden. Das ist ein bisschen heikler als bei Schallplatten, die Vorlaufzeit auch noch länger als selbst in den schlimmsten Presswerken.

Gratis W-Lan im Eurostar ist übrigens to-tal langsam. Muss auch gesagt werden. Wie es einem englischen Musikerfreund einmal rausrutschte, als wir nach einer Tour auf dem Kontinent auf britischen Boden ankamen: “Don’t you also have this thing when you come back home, like, ‚Glad I’m back, everywhere else is a bit crap, really‘?” Nah, mate, not really. Wie harmlos sich das damals anhörte, es war eine andere Zeit.

Die Frau neben mir nimmt die Schlafmaske ab und zieht sich die Ohrenstöpsel raus, wir kommen gleich in Paris an, vom Tisch nebenan kommen immer noch Geschichten über Wein und Essen. “She hasn’t stopped, has she?”, sagt die Frau neben mir.

Aus Hörweite: “And then we went shopping, and the thing was, I was still in my clothes from the walk... It was full on.”

No, she hasn’t.

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