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Allerseelengedanken

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist schmal. Zum Überqueren reicht manchmal ein einziger Kuss.

Von Todor Ovtcharov

Jedes Jahr zu dieser Zeit mache ich einen Erste-Hilfe-Kurs. Als ich ihn zum ersten Mal gemacht habe, habe ich mich gefragt, warum ich das überhaupt machen muss. Ich habe den Erste-Hilfe-Kurs als exotisches Erlebnis in meinem Leben betrachtet.

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Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.

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Der Kurs wird in der Nähe des Meidlinger Bahnhofs durchgeführt, an einem Ort, der von Friedhöfen umzingelt ist. Dort angekommen, haben meine Kollegen und ich darüber gesprochen, warum Friedhöfe umzäunt werden müssen. Jeder, der bereits drinnen ist, wird nicht mehr rauskommen wollen und die, die draußen sind, gehen ungern rein. Jemand meinte ganz philosophisch, dass der Friedhofszaun die Grenze zwischen Leben und Tod sei. Wir scherzten, dass niemand von den um uns Herumliegenden rechtzeitig Erste Hilfe bekommen habe.

Die Puppe, an der wir das Reanimieren üben, hat ein Frauengesicht. Es stammt von der Totenmaske eines jungen Mädchens, das Ende des 19. Jahrhunderts in Paris der Legende nach Selbstmord begangen hat. Niemand weiß, wie sie geheißen hat, deshalb ist sie als „Die Unbekannte aus der Seine“ in die Geschichte eingegangen.

Totenmaske der "Toten aus der Seine"

CC0 Creative Commons

Ihre Schönheit und ihr geheimnisvolles Lächeln haben viele dazu gebracht, sie mit der Mona Lisa zu vergleichen. Ihr Gesicht hat viele Poeten und Schriftsteller inspiriert. Und wir vom Erste-Hilfe-Kurs versuchten, die Unbekannte aus der Seine zu beatmen und küssten sie - einer nach dem anderen. Auf dem Rückweg durch den Friedhof haben wir nicht mehr so viel gescherzt. Jeder hoffte, das Gelernte nie anwenden zu müssen.

Doch ich musste es. Ich arbeite in einer Notschlafstelle für Obdachlose. Eines Tages brach ein namenloser Obdachloser aus Rumänien zusammen. Er hörte auf zu atmen. Ich stürzte mich auf ihn, um ihn zu beatmen. Den Mund von einem bärtigen Mann Mitte 50 zu küssen, ist nicht das Gleiche wie bei der Puppe. Er roch nach Birnenschnaps. Ich schloss meine Augen und dachte an die Unbekannte aus der Seine.

Mit Stolz kann ich behaupten, dass der Mann am Leben blieb, bis die Rettung kam. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt kam er zurück in die Notschlafstelle. Er konnte sich nicht an die Nacht erinnern, in der er kollabiert ist - und ich erinnerte ihn nicht daran. Jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe, musste ich an die Tote aus der Seine denken. Die meistgeküsste Frau der Welt.

Als ich dieses Jahr zum Erste-Hilfe-Kurs gegangen bin, ging ich wieder am Friedhof entlang. Dieses mal fragte ich mich nicht, warum Friedhöfe eingezäunt werden. Ich wusste, dass die Grenze zwischen Leben und Tod schmal ist. Man kann sie ganz leicht überqueren. In der Zeit, die man für einen Kuss braucht.

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