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Mord im Orientexpress

Constantin

Mord im Orientexpress

Um es mit den Fantastischen Vier zu sagen: Den alten fand ich ja ganz gut, den neuen nicht. „Mord im Orientexpress“ ist trotz eines überzeugenden Kenneth Branagh mit exorbitantem Schnurrbart eine nicht wirklich spannende Angelegenheit.

Von Pia Reiser

Ein Toter. 12 Verdächtige, unter ihnen reiche Witwen und noch reichere russische Prinzessinnen. Indizien in Form von Pfeifenreinigern und Taschentüchern. Auf den ersten Blick wirkt die Idee, einen Roman von Agatha Christie auf die große Leinwand zu bringen, muffig.

Doch vielleicht ist gerade der Anachronismus das Reizvolle hier, zwischen all die Geschichten über brutale Serienkiller, die uns Kino und Fernsehen spätestens seit „Das Schweigen der Lämmer“ verlässlich und regelmäßig zuführen, eine murder mystery zu schieben. Alles als alt angenommene - das beherrscht die alte Tante Popkultur ja so gut - taucht irgendwann wieder auf, und manchmal wirkt es vielleicht nur deswegen interessant, weil man von dem, was sonst in dem Genre grad so rumfleucht, schon von Ennui gebeutelt ist.

Dann kann man flapsig je nach Laune Tricky („Brand new you’re retro“) oder Bob Fosse („Everything old is new again“) zitieren und der Idee was abgewinnen, dass im Jahr 2017 nochmal Hercule Poirot - noch dazu im 70-mm-Format - im Kino herumschrullt. Wobei schrullig war der mopsige Belgier mit Sinn für Symmetrie für Agathe Christies Leser in den 1930er und 1940er Jahren. Für uns, die wir stundenlang Zeit mit Misanthropen wie House, Monk, Luther und Sherlock verbracht haben, ist Poirot ja quasi Normcore.

Wäre da nicht der Bart. Der sticht in Kenneth Branaghs Adaption von „Mord im Orient-Express“ raus und zwar wörtlich, ein Bart, den eventuell selbst Dalí als übertrieben bezeichnen würde. Um die Größenverhältnisse hier richtig wiederzugeben, muss man richtigerweise sagen, dass der Bart im Film einen Kenneth Branagh hat.

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Man weiß ja nicht mehr genau, was zuerst da war, Branaghs Ruf als eitler Gockel oder seine Vorliebe für Rollen als eitler Gockel, in jedem Fall reiht sich Hercule Poirot hervorragend ein bei Hamlet, Laurence Olivier und Gilderoy Lockhart, in deren hervorragend geschnittene Kleidung und XL-Egos Branagh geschlüpft ist. Auch Poirots dreiteiliger Anzug sitzt exzellent, wenn er in der formidablem Eröffnungssequenz unter der Sonne Jerusalems vor einer erbosten Menschenmasse seine genialen Fähigkeiten demonstriert. Ein altmodisch-epochaler Kinomoment, der erstens dazu dient, alle, die nicht so vertraut mit Agatha Christies Detektiv sind, die Figur vorzustellen und zweitens aber auch, um den größtmöglichen Gegensatz zum späteren Ort der Handlung zu schaffen.

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Denn von dem offenen, weiten Platz im sonnendurchfluteten Jerusalem und Straßen voll mit Menschen geht es dann mit dem Orientexpress weiter ins schneeverwehte Niemandsland. Mit weihnachtsfilmtauglicher Optik dampft und zischt der Zug durch eine märchenhafte Landschaft und erweckt mit seinem Interieur, den holzvertäfelten Wänden, den Kristallgläsern und Silberbesteck Dankbarkeit dafür, dass niemand die Knallchargen-Idee hatte, die Handlung ins Jetzt zu versetzen. Denn, das weiß auch Branagh, das Reizvolle an dieser murder mystery ist die Opulenz vergangener (Kino)-Tage.

Da wird an Pelzkrägen, Federhüten und maisgelben Seiden-Morgenmänteln nicht gespart, die Wasserwellen der Frauen sitzen ebenso wie die William Powell-Schnurrbärte der Männer. Hier verneigt sich Branaghs Film vor allem vor Sidney Lumets Version aus dem Jahr 1974, doch einen Film mit dem Altersdurchschnitt der Schauspieler von damals bringt man heute nur mehr in die Kinos, wenn man eine bildungsbürgerliche Carpe-Diem-jetzt erst Recht Arthaus-Komödie über eine Renter-WG inszeniert.

Die 12 Passagiere der ersten Klasse, die so gut gekleidet wie entgeistert den Meisterdetektiv anstarren, als der ihnen offenbart (hihi), dass ein Passagier ermordet wurde, sind also deutlich jünger als die 12, denen Albert Finney als Poirot 1974 die gleiche Nachricht überbrachte. Das ist insofern schade, weil damals Ingrid Bergman oder Anthony Perkins Figuren spielten, denen Kummer, Gram und Nervosität ins Gesicht gezeichnet war, was für die Geschichte, die „Mord im Orientexpress“ erzählt, nicht unwesentlich ist. In der Neuverfilmung gibt Daisy Ridley eine Gouvernante in Tweed und wirkt dabei wie ein Dreijähriger, der in Mutters Blazer schlüpft und erwachsenspielt.

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Die größte Änderung ist aber nicht die Cast-Verjüngung, sondern eine ganz gute Art, Agatha Christies latentem Rassismus zu kontern: Aus Colonel Arbuthnot wird ein Arzt - und er ist jetzt schwarz. Überhaupt lässt „Mord im Orientexpress“ im Jahr 2017 dem systemimmanenten Alltagsrassismus der Christie-Romane nicht einfach mit der „so war das halt damals“-Attitüde den Mündern entfleuchen, sondern lässt seine Figuren darauf reagieren.

Das ist eine erfreuliche Haltung des Drehbuchs, das ansonsten aber mit den vielen Figuren heillos überfordert ist. Aus dem Schablonen-Dasein weiß sich nur Michelle Pfeiffer als amerikanische, reiche Witwe Mrs. Hubbard zu befreien, der Rest bleibt blass. Ein whodunnit-Krimi hat immer die schwierige Aufgabe, den Zusehern im Grunde ja nichts zu verheimlichen, aber trotzdem dem Detektiv die triumphalen Ermittlungs- und Aufdeckungsmomente zu überlassen. „Mord im Orientexpress“ schafft es, die Lösung des Falles spannungstechnisch komplett in den Sand zu setzen.

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Zwar versammelt Poirot die Verdächtigen um einen langen Tisch in einem Bahntunnel - und ordnet sie in „Das letzte Abendmahl“-Manier an, aber die Inszenierung der Aufklärung des Falles wird nicht ein herrlich katharsisches Erlebnis, was derartige Szenen ja manchmal noch beim x-ten Mal schauen sein können.

Gegen Ende wird noch angedeutet, dass das nicht das letzte Mal sein könnte, dass wir Branagh als Poirot gesehen haben. Weil seine Darstellung das einzige ist, was einem bei „Mord im Orientexpress“ dranbleiben lässt, würd ich mir auch eine Neuverfilmung von „Der Tod am Nil“ anschauen, nur um dann halt wieder allen mit der Empfehlung, sich doch bitte die Verfilmung aus dem Jahr 1978 anzuschauen, auf die Nerven zu gehen.

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