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Robert Rotifer

Brexit Paradise

Ich hab hier schon so lang nicht mehr über das B-Wort geschrieben, nicht weil nichts passiert wäre, sondern weil’s mir selber schon auf den Sprichwörtlichen ging. Hat sich aber dann doch einiges Unterhaltsames bis Spannendes angehäuft, also tauchen wir noch einmal ein in die Shit-Suppe...

Von Robert Rotifer

In der Zwischenzeit hat die britische Regierung zum Beispiel einen neuen Verteidigungsminister gekriegt.
Statt Sir Michael Fallon, der sich über die Jahre offenbar wiederholtermaßen angetrunken und ungefragt küssend auf Frauen gestürzt bzw. deren Knie betatscht hat, gibt es jetzt Gavin Williamson, als konservativer Chief Whip (Club-Chef) in Westminister traditionsgemäß Hüter einer Liste peinlicher bis krimineller Geheimnisse aus dem Leben der eigenen Abgeordneten. Solche werden zwecks Disziplinierung der jeweiligen Fraktion für den Fall des Falles bereitgehalten („Du stimmst mit uns, oder morgen steht in der Sun was über dein exotisches Hobby“). Rund um Fallons Fall bzw. kurz vor Williamsons Beförderung wurde ein ganzer Haufen solcher Geschichten über konservative Parlamentarier_innen der Presse zugespielt. Das war sicher reiner Zufall.

Es gibt aber auch eine neue Entwicklungshilfe-Ministerin. Geschasst wurde die junge Hoffnung der Tory-Rechten Priti Patel, die ihr Ministerinnenamt als Auftrag verstand, so vielen NGOs wie möglich die staatlichen Förderungen zu streichen. Diesen Sommer hatte sie einen zweiwöchigen angeblichen Urlaub in Israel genützt, um heimlich in eigener Sache 12 ganz spontane Termine mit diversen dortigen Politikern inklusive Benjamin Netanyahu wahrzunehmen. Wobei nicht ganz klar ist, ob nur das Foreign Office (Außenamt) oder auch, wie Theresa Mays Büro behauptet, die Premierministerin nichts davon wusste.

Der Londoner Jewish Chronicle hat da eine interessanterweise beharrlich unwidersprochene Gegenthese anzubieten.
Ersetzt wurde Priti Patel nun jedenfalls durch Penny Mordaunt, die vor dem Brexit-Referendum letztes Jahr von sich reden machte, als sie fälschlich behauptete, die EU würde demnächst die Türkei zum Beitritt einladen und Großbritannien könnte dagegen kein Veto einlegen. Der Besitz der blanken Stirn, gleichzeitig der Öffentlichkeit Unwahrheiten aufzutischen und mit xenophoben Ängsten zu spielen, qualifiziert heutzutage für britische Regierungsämter.

Buchcover

Pan

Ich muss zugeben, ich hab in letzter Zeit zu viele Le Carré-Bücher zum Schlafengehen gelesen, um mich darüber noch zu wundern. Jenes, das dem Schauspiel in Westminister in Sachen Brexit am nächsten kommt, heißt übrigens „The Looking Glass War“, geschrieben im Jahr 1965, und handelt von einer völlig überforderten, ebenso arroganten wie inkompetenten Unterabteilung des Ministry of Defence, die sich im Wettstreit mit anderen Ministerien (vgl. aktuell das Ministerium für den EU-Austritt gegen das Ministerium für internationalen Handel gegen das Außenministerium und eben gegen das Entwicklungshilfeministerium) eine akute nukleare Raketenbedrohung aus Ostdeutschland herbei fantasiert, um noch einmal die heroischen Aufregungen des damals gerade erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Weltkriegs zu erleben (vgl. die Einschätzung der britischen Beamtengewerkschaft).

Der unfähige Abteilungschef Leclerc in „The Looking Glass War“ schickt für dieses nostalgische Projekt zwei Agenten in den Tod, Hauptsache es passiert was. Das heißt, genau genommen bleibt offen, was dem Zweiten, einem von seinen ethnisch britischen Kollegen verachteten, eingebürgerten Polen zustößt, der vom Ministerium schließlich im feindlichen Ausland sitzengelassen wird. Ein bisschen so wie die aus dem Iran eingewanderte Britin Nazanin Zaghari-Ratcliffe, die seit Frühling letzten Jahres nach einem Verwandtenbesuch in ihrem Geburtsland festsitzt. Die iranische Regierung hatte der Mitarbeiterin der Reuters Foundation vorgeworfen, einen Putsch vorzubereiten. Von einem parlamentarischen Ausschuss in Westminster zu dem Fall befragt, brachte Außenminister Boris Johnson die im Überfliegen aufgeschnappten Hintergründe des Falls durcheinander und sagte, so viel er wisse, habe Zaghari-Ratcliffe im Iran „nur Journalisten ausgebildet“. Ups, Irrtum, das war nämlich, was der Iran ihr vorwirft bzw. das Gegenteil der Verteidigungslinie und somit der britische Außenminister nun Kronzeuge ihrer Anklage. Hier enden zugegebenermaßen die Parallelen zum Le Carré-Buch, was derart Tölpelhaftes hätte der gerade aus dem MI6 ausgetretene Autor seinen ehemaligen Dienstgebern bei aller Satirisierung auch nie angedichtet.

So oder so, Boris bleibt, weil Theresa May zurecht fürchtet, was er seiner ministeriellen Verantwortung beraubt alles anrichten könnte.

Gehandelt musste aber trotzdem werden, also hat sie gestern angekündigt, sie werde den 29. März 2019 als Datum des britischen EU-Austritts Großbritanniens gesetzlich verankern lassen. Niemand weiß, was das nützen soll, aber es wirkt entschlossen. Gerade, wo jetzt Lord Kerr, der Typ, der den berühmten Artikel 50 einst auf Juristenenglisch verfasste (ja, ein Brite), erklärt hat, dass nach dessen Formulierung der Weg zurück aus dem Brexit eigentlich rechtlich offenstünde.

Das darf natürlich nicht sein. Und so düst Britannien immer noch ohne irgendeine Idee einem ergebnislosen Ende der Verhandlungen mit der EU entgegen, ohne die nötigen paar tausend neuen Zöllner_innen einzustellen oder die nötigen LKW-Parkplätze vor Dover zu bauen (es gibt aber immerhin schon eine Bürgerinitiative dagegen), geschweige denn zu erklären, wie das mit der elektronischen Grenze zwischen Nordirland und Irland klappen soll, wie Flugzeuge abheben sollen, wenn es kein Abkommen dafür mehr gibt etc. Da fielen einem noch tausend Sachen ein, die die Regierung eigentlich wissen sollte aber beharrlichst nicht wissen will. Bis vor kurzem hieß es noch, es gäbe 58 aus strategischen Gründen geheimgehaltene Studien zu den möglichen Auswirkungen eines harten Brexit, nur habe Theresa May die nicht gelesen. Aber als das Unterhaus den Brexit-Minister David Davies neulich zwingen wollte, diese Studien zu veröffentlichen, musste er zugeben, dass diese gar nicht existieren.
Eigentlich ein Rücktrittsgrund mit Quasten, ist aber völlig untergegangen im ganzen Trubel.

Die größte Enttäuschung des Verschwörungstheoretikers ist ja immer, wenn sich der Feind als für die angenommene Verschwörung viel zu dumm erweist. Trump-Gegner_innen kennen das Gefühl. Zumindest in dieser Hinsicht hat der Brexit aber Trost zu bieten: Wer am dritten oder vierten Tag noch nicht genug von den Paradise Papers hat, durfte im Guardian nachlesen, dass die Elite der Brexiteure und Brexiteusen selbst gehörige materielle Interessen an Steuervermeidung hat. Die EU-Direktive dagegen soll ja am 1. Jänner 2019 in Kraft treten.

Da käme der Brexit zwar knapp zu spät, aber so genau wird’s in den letzten knapp drei Monaten EU-Mitgliedschaft auch niemand mehr nehmen. William Rees-Mogg oder Andrea Leadsom (Verzeihung, ihr Mann) von den Tories, Paul Dacre von der Daily Mail, die Barclay Brothers vom Daily Telegraph, sowie UKIP-Finanzier Arron Banks und Nigel Farage dürfen dann weiterhin fröhlich der Steuervermeidung fröhnen. Und post-Brexit Großbritannien, zu dessen Empire-Resten ja jetzt schon fast alle Steueroasen gehören, darf sich ganz ungeniert zum Singapur des Nordens umbauen. Das wird zwar ein Desaster für die weniger steinreichen Einwohner_innen der Insel, aber es gibt uns wenigstens ein Motiv, das über nationale Hysterie hinausgeht. Was Nachvollziehbares, aber auch etwas, das sich vielleicht dann doch herumsprechen und im Volk, dessen Willen zum Brexit immer noch mantrisch beschworen wird, Gefühle des Verarschtseins auslösen könnte. Denn nur wenn sich auch genug Leute verarscht fühlen, lässt sich das ganze Verhängnis noch verhindern. Und daran beginne ich immer mehr zu glauben, schon überhaupt, sobald es ein Gesetz gegen das Stoppen des Brexit gibt. Das sollte nach jüngsten Erfahrungen mit britischen Regierungen eigentlich dafür garantieren, dass genau das am Ende geschieht.

PS: Juckt in der Zwischenzeit übrigens nicht einmal mehr wen, wenn Nigel Farage was handfest Antisemitisches sagt. Ihr kennt das von Österreich her.
PPS: Irgendwas hat Farage neulich auch wieder gegen das öffentliche Rauchverbot gesagt. Ärzte sind Experten, und denen soll man nicht glauben oder so, find jetzt gerade keinen Link, aber damit geht er jetzt eh schon seit Jahren hausieren. Kennt ihr auch.

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