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Totenschädel bei den Killing Fields

Valerie Kattenfeld

weltreiseblog

Der Nachhall des Genozids in Kambodscha

In Kambodscha geht es zu den historischen Stätten in Phnom Penh, wo die Roten Khmer ihre Schreckensherrschaft ausgeübt haben. Und davor zum Englischunterricht mit kambodschanischen Kindern.

Von Valerie Kattenfeld

Kambodscha erteilt mir Geschichtsnachhilfe auf die harte Tour. Die Art von Geschichte, die man nur begreift, wenn man vor Ort ist. Wenn man am Rande der Killing Fields steht, wo vor vierzig Jahren ein Viertel der Landesbevölkerung von den Roten Khmer systematisch ermordet wurden. Vorzugsweise per Schlag auf den Hinterkopf, um keine teure Munition zu vergeuden.

Die historischen Stätten in und um Phnom Penh sind mir die wichtigsten Stationen im zehnten Land meiner Weltreise. Doch bevor es soweit ist, verbringe ich einige Tage in Lolei Village, in der Nähe von Siem Reap. In der ländlichen Community befindet sich die Angkor Legacy Academy, die ich über die Freiwilligenarbeit-Plattform Workaway ausfindig gemacht habe. Der Name klingt etwas hochtrabend für die kleine und simple Einrichtung, die Englischunterricht anbietet. Er spiegelt aber die unermüdliche Ambition des Leiters Sovannarith Sok wieder. Zwei Klassen mit jeweils acht Tischen befinden sich direkt im überdachten Vorhof seines Hauses. Die Englisch-Stunden laufen den ganzen Tag, von acht Uhr Früh bis sieben Uhr Abend. Wenn gerade keine Freiwilligen da sind, unterrichtet Sovannarith alleine zwei Klassen parallel. Im Durchschnitt kommen hundertachtzig Kinder pro Tag.

Valerie in der Klasse

Valerie Kattenfeld

Ein Dollar für ein Kilo Ameisen

In Kambodscha erahne ich das erste Mal in meinem Leben, was es heißen muss, Hunger zu haben. Ich höre Geschichten vom Verzehr roher Kartoffeln und Insekten. An einem Tag fehlen zwei Schüler, weil sie Ameisen sammeln gegangen sind. Für ein Kilo Ameisen bekommen sie auf dem Markt einen Dollar. Vierzehn Prozent der Bevölkerung Kambodschas leben unter der Armutsgrenze, von 0,93 US-Dollar pro Tag. Sovannarith hat es in seiner Jugend selbst erlebt. Weil niemand ein Schulheft bezahlen konnte, lernte er schreiben mit einem Stab im Sand. Dank seiner afrikanischen Nachbarn sprach er bald besser Englisch als seine Lehrerin. Nun möchte er mit seinem Unterricht Jobperspektiven in der Tourismusbranche eröffnen. Viele seiner Ex-Schüler arbeiten heute als Guides in Angkor Wat oder als TukTuk-Fahrer. Zusätzlich hat Sovannarith ein Food-Programme ins Leben gerufen, bei dem fünfundvierzig Familien mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Öl, Zucker und Salz versorgt werden. Dafür werden monatlich Spenden in der Höhe von insgesamt 1.700 US-Dollar benötigt.

Sovannarith

Valerie Kattenfeld

Sovannarith Sok

Zwei, die von diesem Food Programme profitieren, sind unsere Nachbarn. Das Mädchen Tey ist Vollwaise und lebt mit ihrem fast blinden Freund in einer Hütte auf Stelzen, deren Wände aus geflochtenen Palmblättern und Wellblech bestehen. Im Unterricht wirkt sie verloren. Als wir Sätze mit „that“ und „those“ üben, weiß sie nicht, was von ihr verlangt wird. Die Frage „Are those motorbikes?“ hängt im Raum. Die quirligen Kids um sie herum brennen darauf, ihr einzusagen. Ich würde mir so wünschen, dass sie von selbst draufkommt. Stumm, fast apathisch steht sie da. Schließlich nehme ich ein anderes Kind dran, das stolz antwortet: „Yes, those are motorbikes!“.

Einladung zu Filmpremiere

Valerie Kattenfeld

An einem Tag dürfen wir - Natalja, die andere Freiwillige aus Hamburg, und ich - die Stelzenhütte unserer Nachbarn besuchen. Unten ist die Feuerstelle, wo gekocht und Plastik verbrannt wird. Daneben ein Regal mit etwas Geschirr. Eine Holzleiter führt in die Hütte, die aus nur einem Raum besteht. Eine Matratze liegt auf dem Boden, geschützt durch ein Moskitonetz. Daneben liegen Kleidung, Kerzen, Räucherstäbchen und angestaubtes Papier. Ich hocke mich hin, um besser zu sehen. Und dann entdecke ich etwas, mit dem ich an diesem Ort nicht gerechnet hätte: eine exklusive Premiereneinladung von Angelina Jolie.

Es geht um Jolies Regiearbeit „First they killed my father“, die im Februar 2017 in der Weltkulturerbestätte Angkor Wat präsentiert wurde. Der Film basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Loung Ung und schildert den kambodschanischen Genozid 1975 bis 1979 aus der Perspektive eines kleinen Mädchens. Das Drehbuch hatte Jolie gemeinsam mit Loung Ung entwickelt. Gecastet hat sie bewusst in ärmeren Schichten und Dörfern, darunter eben Lolei Village. „Sie hat Fotos von uns allen gemacht und diese dann mit den Fotos der Opfer verglichen. Ihr war wichtig, dass die Darsteller und Statistinnen möglichst ähnlich aussehen.“ erzählt Sovannarith, der eine kleine Sprechrolle ergattert hat. „Am Set hat sie sich unheimlich um uns bemüht und immer nachgefragt, ob wir etwas brauchen. Sogar Unterricht hat es am Drehort gegeben, damit die Kinder nicht zu viel in der Schule versäumen.“

Geschichte begreifen

Einige Tage später reise ich nach Phnom Penh, an die Orte des Geschehens: die Killing Fields und das Tuol Sleng Museum. Das Gebäude, in dem gefoltert wurde. Wie die Nationalsozialisten haben die Roten Khmer über alles detailgenau Buch geführt. Ich bleibe lange vor den Portraits stehen, sehe mir die Blicke der Menschen vor ihrer Hinrichtung an. Viele starren der Kamera stur entgegen, sie rebellieren bis zuletzt, lassen sich den Stolz nicht nehmen. Andere Blicke sind leer, resigniert. Von jedem gibt es zwei Bilder, eines von vorn, eines im Profil. Im Hof des Museums sitzt der 87-jährige Chum Mey, einer der letzten Überlebenden. Geduldig beantwortet er die Fragen der Besucherinnen, lässt sich fotografieren und signiert seine Autobiografie. Seine Frau und sein Sohn wurden vor seinen Augen vom Pol Pot-Regime erschossen. Nägel wurden ihm brutal aus dem Fleisch gezogen. Dass er heute noch am Leben ist, hat er seinen technischen Kenntnissen als Maschinenbauer zu verdanken.

Chum Mey und Valerie Kattenfeld

Valerie Kattenfeld

Mit Chum Mey

Vom Tuol Sleng-Foltermuseum in Phnom Penh ist es nur eine gute halbe Stunde zu den Killing Fields am Stadtrand. Ein sensibel gestalteter Audioguide führt die Besucher über das Gelände. Eine Station, die ich niemals vergessen werde, ist ein großer Baum. Sein dicker Stamm ist über und über mit bunten Freundschaftsbändern behängt. Von 1975 bis 1979 wurde dieser Baum von den Roten Khmer als Killerinstrument missbraucht. Babys wurden an den Knöcheln gepackt und gegen den Stamm geschleudert, bis sie tot waren.

Jenseits des Westens

Was ich in Kambodscha erfahre, übersteigt mein Fassungsvermögen. Hier sind unglaubliche Sachen passiert. Ich fühle mich wie damals, als wir mit der Schule im KZ Mauthausen waren. Der Unterschied ist, dass wir den Holocaust gut ein Jahr lang durchgenommen haben, den rund zwei Millionen Opfern in Kambodscha aber nur wenige Stunden gewidmet haben.

Killing Tree mit Armbändern behängt

Valerie Kattenfeld

Im Hostel tausche ich mich mit anderen Reisenden aus Kanada, Frankreich und Australien aus. Einige von ihnen hatten im Unterricht überhaupt nie etwas von Pol Pot gehört, geschweige denn von den Völkermorden in Indonesien, Tasmanien, Armenien, Ruanda oder Burundi.

Beschämt stelle ich fest, wie viel Wissen mir fehlt, was Länder außerhalb des vertrauten europäisch-nordamerikanischen Horizonts anbelangt. Ich denke zurück, an all die Original-Schauplätze, die ich besuchen durfte. Die Plaza de Mayo in Buenos Aires, auf der Demonstrantinnen bis heute jeden Donnerstag die Aufklärung über das Verschwinden 30.000 regimekritischer Personen fordern. Der Strand in Samoa, der 2009 vom Tsunami weggefegt wurde. Die Orte werden ergänzt durch unzählige persönliche Begegnungen und Gespräche, bei denen das Verständnis fremder Kulturen eigentlich erst richtig anfängt.

Aber nicht jeder hat die Möglichkeit, zu reisen. Umso wichtiger, dass Künstlerinnen wie Loung Ung oder Angelina Jolie gibt, die Verantwortung für ein Thema übernehmen. Die ihre Popularität nutzen, um Dinge ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, die außerhalb des westlichen Blickfeldes liegen.

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