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Leïla Slimani

Catherine Hélie / Editions Gallimard

Groteske Mary Poppins

Wenn der Horror in den eigenen vier Wänden lauert: Die französische Schriftstellerin Leïla Slimani zeichnet mit ihrem ausgezeichneten Roman „Dann schlaf auch du“ ein grausam spannendes Sittenbild.

Von Lisa Schneider

Das grausame Ende ihres Romans nimmt Leïla Slimani schon in den ersten Zeilen vorweg:

Das Baby ist tot. Sekunden haben genügt. Man hat es in eine graue Hülle gelegt und den Reißverschluss über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten der Spielzeuge trieb. Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde.

Für den kleinen Adam kommt jede Rettung zu spät, auch die kleine Mila wird im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegen. Die Nanny, die die beiden Kinder erdolcht hat und sich danach selbst richten wollte, ist die einzige, die das Blutbad schließlich überleben wird.

Die perfekte Nanny

Myriam und Paul Massé leben im 10. Pariser Arrondissement, sie sind ein „Bobo“-Pärchen („bourgeois-bohémien“), und suchen ein Kindermädchen. Myriam hat Jura studiert, eine beispiellose Ehrgeizlerin, die nach der Geburt der beiden Kinder schnell in Langeweile und Depression ob ihrer geistigen Unterforderung verfällt. Sie nimmt das Angebot ihres ehemaligen Studienkollegen, in seiner Kanzlei einzusteigen, ohne viel zu überlegen an. Wohin aber jetzt mit den Kindern?

Leïla Slimani, 1981 in Marokko geboren, lebt mittlerweile in Paris. Mit ihrem Roman „Dann schlaf auch du“ steht sie 2016 nicht nur wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten, sie wird auch mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Sie nennt ihren Roman selbst „Ein dunkles Märchen für Erwachsene“.

Paul und Myriam machen sich auf die Suche. Myriam, selbst halb Nordafrikanerin, will keine Migrantin einstellen. Ihr Mann Paul sieht das pragmatischer: Wenn die Nanny, die „Nounou“, denn schon Kinder hat, dann wäre es doch immerhin besser, die wären im Ausland. Weil dann hätte sie mehr Zeit, während sie hier in Paris bei den ihren ist. Unterm Strich ist aber nur eins wichtig: Keine ohne Papiere wird angestellt, weil das ist vielleicht bei einer Haushälterin in Ordnung, bei den Kindern aber zu riskant.

Kurz vor der absoluten Verzweiflung darüber, nicht das perfekte Kindermädchen zu finden, steht auf einmal Louise im Zimmer. Sie ist Anfang vierzig, hat selbst eine Tochter, die aber schon erwachsen ist, noch dazu ist sie Witwe. Die Kinder lieben sie sofort. Sie ist perfekt, „eine Fee“.

Schnell macht sie sich die kleine, vollgestopfte Pariser Wohnung zu eigen. Sie ist wie die unsichtbare Hand, die die Möbel „trotz zerbrechlicher Ärmchen“ verschiebt, auf dass der Raum wohnlich wird. Sie kümmert sich nicht nur um die Kinder, sie hält nach wenigen Wochen die ganze Familie zusammen, sie kocht, putzt, ist immer da, wenn man sie braucht.

Eine versteckte Machtposition

Es ist ein schleichender Vorgang: Das einst noch fremde Hausmädchen wird Teil der Familie. Die nicht selten unangenehme Situation, ein sogenanntes „Familienmitglied“ für seine Tätigkeiten zu bezahlen, führt zu einer eigenartigen Form von Nicht-Beziehung, die die Massés mit ihrer Nanny führen. Daraus ergibt sich eine Dynamik, die vor allem Louise auf eine anstrengende emotionale Probe stellt. Sie sieht Dinge, die vor anderen versteckt werden, sie weiß von den wirklich unangenehmen Momenten, über die nicht gesprochen wird. Diese Machtposition ist ihr sehr wohl bewusst.

Cover Roman "Dann schlaf auch du"

Luchterhand

Der Roman „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimani ist im Luchterhand Verlag erschienen. Übersetzt aus dem Französischen hat Amelie Thoma.

In einer seltsamen Kombination aus Nahe- und Dienstverhältnis fühlen sich Myriam und Paul sogar dafür verantwortlich, ihre „Nounou“ in den Urlaub nach Griechenland mitzunehmen. Immerhin „gehört sie ja zur Familie“. Gerade aber in diesen bizarren Urlaubssituationen, in denen die Grenze zwischen gemütlichem Zusammensitzen als Freunde und den Tätigkeiten, für die Louise bezahlt wird, verschwimmen, kehrt sich immer wieder ein Problem hervor: Die Massés kennen Louise eigentlich überhaupt nicht.

Louise ist wie ein Wesen, das durch ihr Leben streift, um es schöner und angenehmer zu machen. Dass sie in schier unerträglicher Einsamkeit lebt, ihr Leben lang Schikane, Zurückweisung und Demütigung erlebt hat, weiß nur der Leser. Ihr Mann, ein unguter Säufer, ist verstorben. Für ihre Tochter hat sich Louise schon früh nur sehr wenig interessiert – weshalb diese im Teenageralter auch einfach davongelaufen ist. Louise hat nie nach ihr gesucht. Von ihrer Mutter, die ebenfalls als Kindermädchen gearbeitet hat, ist ihr der Beruf in Fleisch und Blut übergegangen: Das Wichtigste sind die Kinder. Und damit sind nicht die eigenen gemeint.

Langsam bekommt man einen Einblick in die Psyche Louises, ihre prekäre finanzielle Situation, die Wohnung, in der sie haust, in der sie akribisch alles putzt, aber sich nie zuhause fühlen wird. Sie will nur in die Wohnung im 10. Arrondissement, das ist ihr Zuhause, dort gehört sie hin. Der schönste Moment für sie ist der um halb acht Uhr morgens, wenn sie, frisch herausgeputzt wie eine Art groteske Mary Poppins vor der Haustür der Massés steht und auf Einlass wartet. Die beiden fremden Kinder, die neue Familie, das ist alles, was sie hat. Sie malt sich Horrorszenarien ihrer Zukunft aus, wenn die Kinder zu groß sind, und sie nicht mehr gebraucht wird. Louise entwickelt eine fixe Idee davon, immer mit ihren Problemen alleine gelassen zu werden, und ihr Selbstmitleid verändert ihren kindlichen Optimismus und ihre Unterwürfigkeit in schieren Hass.

Das junge Paar erfährt nichts von Louises Problemen. Es ist aber weniger fehlendes Einfühlungsvermögen als vielmehr subtiles Wegsehen – die eigenen Sorgen hinsichtlich Beruf und Karriere sind zu einnehmend.

Ausgezeichneter Nicht-Krimi

Das Ende ist also verraten, es ist kein Krimi, Leïla Slimani erklärt den Kindsmord nicht. Sie blickt mit gleichermaßen verteilter Empathie auf alle ihre Charaktere.

Der Kunstgriff des Romans liegt nicht in der Aufschlüsselung des vorliegenden Kriminalfalls, sondern dass am Ende die Frage offen bleibt: Wer hatte tatsächlich Schuld?

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