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Flyer für Matthew Herbert's Big Band im Barbican

Barbican

Robert Rotifer

Die Papierflieger der Liebe

Mit seiner Brexit Big Band hat Matthew Herbert die Hüter des britischen Volkswillens verärgert. Ein Besuch in seinem abgeschiedenen Farm-Haus mitten im tiefsten Brexit-Land.

Von Robert Rotifer

„Brexit Big Band“, das klingt wie ein Haufen dicker Männer in Union Jack-Gilets und lustigen Zylindern, die in irgendeiner Church Hall im ländlichen Kent patriotischen Dixieland Jazz spielen.

„Matthew Herberts Brexit Big Band“ dagegen klingt, ohne einen Ton gehört zu haben – abzüglich einer kurzen Schrecksekunde bei Vernehmen des Worts, weil man ja in der Musikwelt in dieser Hinsicht auch niemand mehr trauen kann (Herbert aber schon) – wie der perfekte Medienköder, ein genialer Schachzug. Und nachdem Herbert (ehemals aka Doctor Rockit, Radio Boy, Wishmountain etc.) im Oktober mit diesem Projekt die große Bühne des Londoner Barbican mit rund 150 Musiker_innen gefüllt hatte, begann die Provokation zu greifen. Die Brexit-besessene britische Boulevard-Presse, die von diesem Menschen wohl noch nie gehört hatte, entlarvte ihn als unpatriotischen Saboteur, ja noch schlimmer, einen, der mit Staatsgeldern das Nest beschmutzt (kennt man von wo?). Da musste natürlich auch die BBC gleich fest mitwüten: UK government funds Matthew Herbert’s Brexit Big Band.

Matthew Herbert's Brexit Big Band live im Barbican

Barbican / Matthew Herbert

Um seine „Brexit Big Band“ auf die Beine zu stellen, hatte Herbert nämlich ein wenig Förderungsgeld von der BPI, dem Dachverband der britischen Musikindustrie erhalten. Der seinerseits wieder sein Geld vom Department of International Trade zur Förderung des Musikexports erhielt. Ein Ministerium geführt vom Hardline-Brexit-Fantasten Liam Fox, der davon natürlich keinen Schimmer haben konnte, den so eine Förderungsvergabe aber auch rein gar nichts angeht. 2017 ist das offenbar anders. Die Zeiten der repressiven Toleranz, als Künstler_innen angehalten waren, sich zum Beweis der großen Freiheit so arg wie möglich aufzuführen, sind eine ferne Erinnerung. Kunst muss wieder auf einer Linie mit dem „Volkswillen“ sein.

Auf Matthew Herberts Website fand sich als Reaktion auf die Anwürfe ein etwas beunruhigend defensives Statement. Zitat: „Das Wichtigste ist, dass dies nicht ein Anti-Brexit-Projekt ist. Dies ist ein Projekt, das, nachdem wir akzeptiert haben, dass der Brexit stattfinden wird, versucht herauszufinden, wie ein neues Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn aussehen könnte. Dieses Verhältnis sollte, wie ich finde, auf Respekt, Neugier, Kreativität, Mitgefühl, Zusammenarbeit und Liebe basieren. Mir ist unklar, welches dieser Details kontrovers sein könnte.“

Das letzte Mal, als ich ihn zum Interview traf, hatte sich Matthew Herbert sein Studio noch in Greenwich, im südlichen Zentrum Londons eingerichtet. Er hatte gerade sein Album „Bodily Functions“ fertiggestellt, das streng nach den Grundsätzen seines Manifests, des Personal Contract for the Composition of Music produziert worden war: „Keine Drum Machines, keine Synthesizer, keine Presets“, postulierte der ehemalige Elektroniker, der kein ehemaliger war, denn Samplen war ja immer noch erlaubt, solange es nur akustische Klänge waren, die da zur Verwendung kamen. Inklusive den im Albumtitel versprochenen Geräuschen von Körperfunktionen. Es war Frühling 2001, in New York dominierten noch die Twin Towers die Skyline, und die spannendste Bewegung der Zeit schien eine neu aufgeflammte Kapitalismuskritik zu sein, die – so weit ich mich erinnere – auch Herbert mitriss. Es gab viel Raum für Hirngespinste und Grund zum Optimismus.

Mehr als sechzehn Jahre später fuhr ich nun im Marschland von Kent, unweit der nördlichen Küste der Provinz, vor einem abgelegenen Farm-Haus mit elektrischen Toren vor. Ein paar Jahre hatte Herbert, so wie ich seit einiger Zeit ein London-Flüchtling, up the road im von anderen London-Flüchtlingen kulturell dominierten Whitstable gewohnt. Sein neues Anwesen dagegen liegt in der Nähe des benachbarten Herne Bay, einer weit weniger glamourösen Küstenstadt, wo der Brexit auf eine satte Zweidrittelmehrheit bauen durfte. Als sich das elektrische Tor zur verabredeten Zeit vor mir öffnet, frage ich mich natürlich, ob Matthew Herbert sich in dieser Nachbarschaft heutzutage belagert fühlt, angesichts all der Drohbriefe bzw. -mails, die es dieser Tage auf ihn herabregnet. Aber als ich dann mit ihm in seiner Küche sitze, wird mir bald klarer, wo sein Bedürfnis herkommt, sich zu erklären. „Ich muss doch weiter mit den Leuten Freunde sein können, von denen ich hier meine Milch kaufe, und von denen ich weiß, dass sie für den Brexit gestimmt haben.“ Das Problem, dass sich in einer gespaltenen Situation wie dieser nichts gewinnen lässt, wenn man nicht auf die andere Seite eingeht, das stellt sich dieser Tage nicht nur im Osten von Kent.

„Auch wenn ich persönlich den Brexit für eine idiotische Zeit- und Geldverschwendung halte, ist die Big Band grundsätzlich nicht Anti-Brexit“, insistiert Matthew Herbert: „Aber mein prinzipieller Punkt ist, dass ich immer noch enge kulturelle, freundschaftliche, persönliche, politische, soziale, vertiefte Beziehungen zu unseren nächsten Nachbarn unterhalten will. Und was mir an diesem Projekt gefällt, ist, dass es diese politische Position physisch fassbar macht.“

Zeremonielles Zerreißen der Daily Mail

„Ich finde es faszinierend zu beobachten, was für eine Wirkung dieses Projekt ausübt. Sich in die Arena der Nachrichtenwelt zu begeben, das ist so, als würde man in einem kleinen Paddelboot durch einen Sturm rudern“, sagt Herbert. Und gleichzeitig zeigt er mir stolz einen Bericht, den das Satire- und Medienkritik-Magazin „Private Eye“ über die hitzigen Reaktionen auf sein Projekt geschrieben hat. Am Ende des Artikels steht sinngemäß, dass Herbert, nachdem er das Geräusch des Zerreißens des Hetzblatts Daily Mail in seiner Musik verwendet habe, das nächste Mal plane, die Daily Mail auf der Bühne zu verbrennen.

Ich frage ihn, ob das stimmt. „Nein, das haben die sich selber zusammengereimt“, meint Herbert, aber es stört ihn nicht, amüsiert ihn eher. Keine Ahnung, ob das Private Eye weiß, dass Herbert in seiner Performance „Requiem“ ein Streichquartett von brennenden Instrumenten spielen ließ. Die Musik dazu kam damals vom von der EU gern für sich verbuchten Beethoven.

„Der Kapitalismus hat seine schmutzigen Finger schon lange in der Musik“

Auf die Frage, ob ihm seine Brexit Big Band nicht besser schon vor zwei Jahren hätte einfallen sollen, antwortet Matthew Herbert wieder mit einer berechtigten Gegenfrage: Wer braucht schon einen Musiker, der alles besser weiß? Eine Anti-Brexit Big Band vor dem Referendum wäre wohl nichts anderes gewesen als eine Stimme der abgehobenen Eliten mehr zum Abstrafen: „Habe ich genug getan? Absolut nicht, denn wir sind jetzt in einer katastrophalen Lage.“ Trotzdem findet er es nicht ganz fair, anderen Kolleg_innen ihr Schweigen vorzuhalten, „Der Kapitalismus hat seine schmutzigen Finger schon lange in der Musik drin und korrumpiert die Stimmen der Künstler_innen. Es ist sehr schwer geworden, von der Musik zu leben, und politische Aussagen können dich einen Teil deines Publikums kosten. Das ist derselbe Grund, aus dem das Reinigungspersonal irgendeiner einer noblen Bank in Canary Wharf nicht der Gewerkschaft beitreten will: Sie wollen keinen Ärger, weil ihre eigene Beschäftigung unsicher ist.“

Dass Herbert sich dann trotzdem aus dem Fenster gelehnt hat, lag daran, dass er „einfach genug hatte von den endlosen Debatten über die Wirtschaft und die britische Identität. Mit diesem Projekt wollte ich mich zu einem Teil der Konversation machen, und dafür sorgen, dass man nicht nur den Geschäftsleuten die Entscheidungen und die lauteste Stimme überlässt.“

Wenn es nur die berechenbaren Eigeninteressen der Geschäftsleute wären, und nicht ein irrationales nationalistisches Fieber, das den Brexit vorantreibt. Aber bevor wir Matthew Herbert zum Widerstandskämpfer des Dancefloor hochstilisieren: Allen persönlichen Drohungen und öffentlichen Angriffen zum Trotz kann er sich darauf verlassen, dass der musikalische Wirkungskreis der Brexit Big Band und ihres bei all ihrem aus Live-Mitschnitten erkennbaren Übermut doch ziemlich akademischen Begriff des musikalischen Experiments, im sicheren, bildungsbürgerlichen Bereich bleiben wird.

„Unser nächstes Konzert ist in Brüssel“, sagt Herbert, „Und es ist aufregend, da mit 150 Leuten hinzufahren, um sozusagen der EU eine Botschaft des britischen Volks zu überbringen. Bei unserem Konzert in London haben wir das Publikum ganz konkret gebeten, Briefe an die EU zu schreiben und sie als Papierflieger zu uns auf die Bühne zu werfen. Im Januar werden wir diese gesammelten Papierflieger nach Brüssel mitnehmen und ins Publikum zurückwerfen. Ich werde nicht alle dieser Botschaften gelesen haben, also könnten manche unliebsam, manche pro und manche anti, manche freundlich und manche dumm sein.“

Na ja, der Anteil an Brexit-Befürwortungen wird überschaubar bleiben. Es war schließlich das Barbican.

Und auch das Album, das die Brexit Big Band bis zum 29. 3. 2019, dem offiziellen Datum des EU-Austritts veröffentlichen will, werden Mainstream-Konsument_innen wohl problemlos ignorieren können. A propos Album: Herbert muss laut losprusten, als ich ihm zur Abwechslung einmal eine Frage zur Musik stelle. „Seit drei Wochen hat mich schon niemand mehr was über die Musik gefragt!“

Auf seiner Website Brexit Sound Swap wird die internationale Öffentlichkeit aufgefordert, dreisekündige Klänge zum gegenseitigen Tauschen einzuschicken, die ihren Weg in die Musik der Brexit Big Band finden könnten. Herbert schreibt aber auch Songs, und diesen Prozess findet er nicht einfach: „Zu Beginn dieses Projekts vertonte ich den Artikel 50 des EU-Vertrags, weil ich mich selbst und das Publikum besser darüber informieren wollte. Aber nachdem ich das gemacht hatte, fragte ich mich: Wie schreibt man über Nigel Farage und Boris Johnson, ohne ihnen noch mehr Macht zu verleihen? Das Wort „Farage“ in meinem Song zu haben, würde sich anfühlen, als verschmutzte ich damit das Wasser. Ich versuchte also, all das zu klären, und dabei stieß ich auf etwas Unerwartetes. Die Texte wurden wesentlich emotionaler. Sie begannen sich um das Thema Trennung und Scheidung zu drehen, und um Mitgefühl.“ Je länger das Projekt andauert, desto mehr empfindet er die Brexit Big Band „wie ein Gemeinschaftsprojekt an, und nicht als so etwas Fixes und Abstraktes wie eine Platte“, sagt Herbert, „Einer der Songs heißt: ‚You’re Welcome Here.‘ Mit 150 Leuten auf der Bühne zu stehen und ‚Du bist hier willkommen‘ zu singen, das fühlt sich politisch stark an. Ich habe Leute vom Kontinent im Chor dabei, die sagten, dass ihnen das in England noch niemand gesagt hätte: ‚Du bist hier willkommen.‘ Und sie fanden das für sich wichtig. Es klingt naiv, banal und ein bisschen lächerlich zu sagen, dass viele der Songs von der Liebe handeln, aber gerade diese Liebe brauchen wir jetzt. Wir brauchen es, dass wir zu einander sagen: Ich sorge mich um dich, ich stehe hinter dir.“

Was immer aus der Brexit Big Band werden sollte, ein Schachzug ist sie schon lange nicht mehr.

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