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Rewind 2017

Geschichten, die das Leben schrieb

Das Leben schreibt doch die härtesten Geschichten. 2017 haben einige beeindruckend offen, radikal und schonungslos in ihren Autobiographien diese erzählt. Bewunderung für Heidi Benneckenstein, Karl Ove Knausgård und Ulli Lust.

von Zita Bereuter

Als Kind in einer Umgebung von Neonazis aufzuwachsen ist besonders pervers und hart. Hart ist es allerdings auch, sich aus dieser Welt zu befreien. Heidi Benneckenstein erzählt über den Alltag in einer Nazifamilie, den Ausstieg und das Leben danach in „Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie“.

Cover "Ein Deutsches Mädchen"

Tropen

Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie. Tropen Verlag 2017

Heidis Vater ist aktiver Neonazi. „Es war mir schnell klar, dass unser Vater anders ist als andere Väter, dass er weniger am Familienleben teilnimmt, und, wenn, nur auf eine negative, bestimmende Art. Und dass wir in einer besonderen Situation sind, die andere Kinder nicht so erleben“, erinnert sich Heidi im Interview an ihre Kindheit in der Nähe von München.

Sie ist fünf Jahre alt, als sie das erste Mal gemeinsam mit ihrer Schwester ein Ferienlager der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ besucht.
„Wir saßen am Lagerfeuer, sangen verbotene Lieder, marschierten kilometerweit durch Wälder und sprachen uns mit „Kamerad“ und „Heil Dir“ an. Wir wurden militärisch gedrillt und ideologisch geschult. Campiert wurde auf Zeltplätzen in Wäldern oder an unbesiedelten Küstenstreifen. Abends hörten wir Vorträge über „Rassenkunde“, „die biologischen Grundlagen unserer Weltanschauung“ oder „altgermanische Runenschrift“, schauten den Nazi-Propaganda-Film „Der ewige Jude“ und lauschten den Versen des NS-Dichters Heinrich Anacker (…). Wer genauer hinsah, konnte erkennen, worum es wirklich ging: Wir sollten systematisch zu einer braunen Elite herangezüchtet werden, die am Tag der Machtübernahme das Führungspersonal des Vierten Reiches stellen sollte.“

Über derartiges zu erzählen, aber auch über eigene Gewalttaten und den langen Kampf des Ausstiegs, erfordert Mut.
Heidi Beneckenstein hat das beeindruckend geschafft.

Autobiographie von Karl Ove Knausgård Knausgard

Zita Bereuter

Ein Leben in gut 30cm. „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Träumen“, „Leben“, „Kämpfen“ so die deutschen Übersetzungen von „Min Kamp“, der Autobiographie von Karl Ove Knausgård. Alle deutschsprachigen Bände wurden von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg aus dem Norwegischen übersetzt und sind im Verlag Luchterhand erschienen.

Von den Neonazis und dem Kampf zu „Min Kamp“. Denn so heißt die Autobiographie von Karl Ove Knausgård. Er wolle diesen Titel nicht Hitler und seiner Gesinnung überlassen, erklärte Knausgård mal. Denn sein Alltag sei ein täglicher Kampf. Und so beschreibt der Norwegische Autor, der in Schweden lebt, den Kampf mit seiner Familie, der Umwelt, aber vor allem auch mit sich selbst.

Knausgård beobachtet genau und detailliert - seine sechsbändige Autobiographie hat gschmackige viereinhalbtausend Seiten. Der letzte Band erschien heuer auf Deutsch. „Kämpfen“ ist der Titel.

Mit Knausgård ist es wie mit Rosinen – man mag sie oder man mag sie nicht. Aber viele mögen sie - der 48jährige hat heuer auch den Staatspreis für Europäische Literatur in Wien erhalten. Karl Ove Knausgård ist zu sich selbst schonungslos, radikal und ehrlich.

Bild mit Aufschrift Seufz

Ulli Lust/Suhrkamp

Schonungslos, radikal und ehrlich ist auch Ulli Lust. Die in Wien geborene und in Berlin lebende Comiczeichnerin ist inspiriert und begeistert von den „alternative Comiczeichnern“ aus Amerika, die offen und ehrlich erzählen.

Cover "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein"

suhrkamp

Ulli Lust: Wie ich versuchte ein guter Mensch zu sein. Suhrkamp 2017

Mit Anfang Zwanzig liebt Autorin Ulli Lust zwei Männer. In „Wie ich versuchte ein guter Mensch zu sein“ zeichnet und beschreibt sie diese offene Dreierbeziehung, die lange gut funktioniert. Aber irgendwann dominieren Vorwürfe, Eifersucht, Besitzansprüche und Gewalt.

Ehrlichkeit und Offenheit steht da über allem, peinlich ist ihr nichts. „Wenn ich merke, dass ich etwas nicht erzählen würde, weil es mir peinlich ist, das ist kein Argument.“

Ulli Lust bevorzugt das autobiographische Schreiben - so kenne sie einerseits die genauen Quellen und könne selbst entscheiden, wie viel sie von sich preisgibt. Sie könnte diese Geschichte nicht in der Intimität über andere Menschen erzählen, da sie sonst deren Privatsphäre verletzten würde. „Es ist ein bisschen schwieriger, andere Menschen bloß zu stellen als sich selbst.“

Das ist intim, direkt, rüttelt an Tabus und ist eine der besten Graphic Novels des Jahres.

Man kann Autorinnen und Autoren wie diesen nur dankbar sein. Die ärgsten Geschichten schreibt doch das Leben. Aber jemand muss sie auch aufschreiben.

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