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Houston Street NYC 2006

Christian Lehner

Last Nite

„Meet Me In The Bathroom”. Eine Homebase-Stunde lang Musik und Interviews aus dem New York der Nullerjahre. Mit LCD Soundsystem, Yeah Yeah Yeahs, Regina Spektor u.a.

Von Christian Lehner

28.01.2004. Ich war vorgewarnt. „Don’t go to Brooklyn”, sagte mein Vermieter. “It’s gonna be a real nasty Blizzard!” Die Straßen waren menschenleer. Dicke Flocken sausten durch die Häuserschluchten des East Village in Manhattan. Ich nahm den L-Train von der 1st Ave zur Bedford Ave in Williamsburg. Es ist bloß eine kurze Fahrt, die unter den East River hindurch führt und trotzdem lagen damals Welten zwischen Manhattan und Brooklyn. Noch wagten sich kaum Yellow Cabs über den Fluss. Zu gefährlich. Die Umwidmung der ufernahen Blocks in Williamsburg und Greenpoint von einer Industrie- in eine Wohnzone war noch in weiter Ferne.

Brooklyn Snow

Christian Lehner

28.01.2004. Williamsburg, NYC

Von Manhattan nach Brooklyn

Ein paar österreichische Künstler und Architekten gehörten zu den ersten Neusiedlern von Williamsburg. Sie hatten eines der Loading Docks am Ufer des East River für ihre chassidischen Vermieter in Lofts umgewandelt und dafür ein Atelier mit großzügigem Blick auf Manhattan erhalten. Doch dort wollte ich nicht hin an diesem Abend.

Als ich die Stufen von der U-Bahn-Station hinauf zur Bedford Avenue stieg, wehte mir ein eiskalter Wind entgegen. Es bildete sich bereits eine Schneeschicht. Die Straßenbeleuchtung tauchte die Avenue in ein sattes Orange. Auch hier keine Menschenseele auf der Straße.

Ich traf R. in einer polnischen Bar unweit des Bedford Stops. An der Wand ein Portrait von Papst Johannes Paul II.. Das Bier wurde in Styroporbechern ausgeschenkt. Bürgermeister Bloomberg hatte vor einigen Monaten einen Smoking Ban verhängt, trotzdem zogen einige ältere Gäste stoisch an ihren Zigaretten.

R. war der damalige Freund von T. Und T. war eine Freundin aus Wien, die seit einigen Jahren in New York lebte. Ich war erst wenige Wochen in der Stadt. T. und der österreichische Journalist M., der in der Lower East Side wohnte, waren meine Anker. T. hatte ein gutes Händchen für interessante Typen. Einer ihrer Ex wurde zum ersten Millionär des Streaming-Zeitalters, ein anderer zu einem Kommunistenführer in England. R. sollte Jahre später ein Aggro-Technolabel in Holland gründen. T. wurde innerhalb von wenigen Wochen zweimal ausgeraubt und blieb trotzdem in Brooklyn. Sie ist ein tough cookie.

Cover Buch "Meet Me In The Bathroom"

HarperCollins

„Meet Me In The Bathroom“ von Lizzy Goodman ist bei Dey St./HarperCollins erschienen.

T. und R. waren „connected“. Sie stellten mir den Rapper TES vor, der mit „New New York“ eine Post-9/11-Hymne geschrieben hatte, die sich als prophetischer Text für die folgenden Jahre der Gentrification Brooklyns erweisen sollte. T. war es auch, die mich über ihre Freundin, die DIY-Schneiderin Christian Joy, an das Camp der Yeah Yeah Yeahs heranführte.

R. trug einen mächtigen Schnauzer. Seine skinny Arme waren übersät mit Tattoos. Für den Bart erntete der Italoamerikaner belustigte Blicke. Wenig später gingen die geschwungenen Rotzbremsen als Hipster-Lip in Serie. R. war ein Prototyp des H-Wortes. Und er war ein music man. Es schien, als würde R. seinen Bart durch sämtliche Musikbars und Proberäume der Stadt spazieren führen. Wir bestellten einen Pitcher Brooklyn Lager. R. erzählte von seiner Band, einer Lärmcombo mit maximalem Tinitus-Faktor. Aber er erzählte auch von einer anderen Band, die noch viel besser sei und sicher bald groß herauskommen würde. R. steckte mir eine selbstgebrannte CD zu. Auf dem Silberling stand mit Edding „TV On The Radio“ geschrieben. Was für ein absurder Name, dachte ich.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich in dieser Nacht zurück nach Manhattan gekommen bin - irgendwann brach der gesamte Verkehr zusammen und New York verschwand unter einer dicken Schneedecke. An was ich mich aber noch sehr gut erinnere, ist die Sonne, die in meinem winzigen Apartment aufging, als ich den ersten Takten von „Staring at the Sun“ lauschte. Nach Wochen des Suchens und Herumstöberns war ich endlich fündig geworden. Das war es. Genau deswegen war ich gekommen.

The big Zeitenwende

Es folgte eine Dekade New York City inmitten des großen Brooklyn-Hypes. Zurückgekommen bin ich 11 Jahre später mit Frau, Kind und einem riesigen Interview-Archiv. Nur ein Bruchteil davon wird heute Abend ab 21 Uhr in der FM4-Homebase zur hören sein.

Anlass ist das im letzten Jahr erschienene Buch Meet Me In The Bathroom der Musikjournalistin Lizzy Goodman. Der Untertitel verrät den Inhalt: „Rebirth And Rock And Roll In New York City 2001 – 2011“. Beschrieben wird der Aufstieg von Bands wie The Strokes, Yeah Yeah Yeahs oder Interpol. Goodman hat hunderte Musiker, Promoter, Manager und Szenefiguren interviewt und für sich selbst sprechen lassen. Nicht zufällig erinnert das Buch an den Klassiker der Oral History Please Kill Me. The Uncensored Oral History of Punk von Legs McNeil und Gillian McCain.

Doch wie jeder gute Wälzer über Popmusik erzählt „Meet Me In The Bathroom” mehr als bloß von stickigen Proberäumen, unerwarteten Karrieren und wilden Nächten. Goodman hat mit ihrem Buch eine Zeitenwende dokumentiert. „Is This It“, das Debütalbum von The Strokes, erschien nur wenige Tage nach den Anschlägen des 11. September 2001. Die Stadt war nun eine andere. Plötzlich lebte man in einer Sicherheitszone. Glimmstengel und Aschenbecher wurden aus den Bars verbannt, die ersten Fahrradwege und Fixies tauchten auf.

Nic Ofer von !!!, Brooklyn 2004

Christian Lehner

Nic Offer von !!! in Williamsburg, BK am 21.06.2004

Der Fokus der Musikszene verlagerte sich von Manhattan nach Brooklyn. Blogs mischten im Musikbiz mit. Das analoge Geschäftsmodell der Musikindustrie geriet ins Wanken. Hörgewohnheiten änderten sich und somit auch die Musik. Am Ende wurde das ganze Szeneding größer als seine Protagonisten. Brooklyn mutierte zum internationalen Lifestyle-Brand zwischen selbstgebrautem Bier, Hipster-Mode und Vintage-Design. Es prägt noch heute die vorherrschende Ästhetik unserer Lebenskultur.

„Meet Me In The Bathroom” kann also auch als ein wehmütiger Nachruf gelesen werden auf das letzte Aufbäumen des Rock’n’Roll, seine tradierten Codes, Wirkungsstätten und Szenen. Dabei lag das Neue bereits in jenen Bands begründet, die das vermeintliche Revival losgetreten hatten. Aber so ist es ja immer. Must read.

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