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Patrisse Cullors accepting the sydney peace prize

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Patrisse Khan-Cullors erzählt die Geschichte hinter Black Lives Matter

Das Buch „Black Lives Matter - eine Geschichte des Überlebens“ ist ein höchstpersönliches Puzzle, ein atemberaubender Pageturner und ein Heilmittel gegen den Wahn unserer Zeit.

Von Lukas Tagwerker

Wir wissen, dass die USA (und das politische Weltsystem) sich in einer tiefen Krise befinden, deren sichtbarstes Symptom die rassistische 45. Präsidentschaft des Immobilienunternehmers und Reality-TV-Stars Donald Trump ist.

Allein im Bundesstaat Kalifornien erschießt die Polizei durchschnittlich alle 72 Stunden einen Menschen. Weiße Cops töten überproportional viele Schwarze und Hispanics.

Der 17-jährige Trayvon Martin, der 18-jährige Michael Brown (aus Ferguson, Missouri), die 37-jährige Tanisha Anderson, die 28-jährige Sandra Bland, die 22-jährige Rekia Boyd, die 34-jährige Miriam Carey, die 19-jährige Shelly Hilliard, die 27-jährige Shelly Frey, der 43-jährige Eric Garner, der 12-jährige Tamir Rice, die 7-jährige Aiyana Stanley-Jones, .... - die Liste geht weiter und weiter - sind alle durch US-“Sicherheitskräfte“ zu Tode gekommen.

Ihre Mörder sind alle (!) bis heute straffrei geblieben, zu oft nicht einmal angeklagt worden.

Am 13. Juli 2013 wird der Mörder des unbewaffneten Schülers Trayvon Martin freigesprochen. Augenblicke später im Netz:

Black Lives Matter Tweet

Twitter

Als die Künstlerin und Aktivistin Patrisse Cullors ihrer Freundin, der Publizistin Alicia Garza mit einem # antwortet, ist das der Kristallisationspunkt der größten politischen Bewegung seit dem Civil Rights- und Black Power Movement.

Patrisse Cullors wächst in den 1980er-Jahren in Los Angeles auf. Das Stadtviertel Van Nuys ist ihre Heimat. Hier arbeitet ihr Vater in der General-Motors-Fabrik. Von hier bricht ihre Mutter Cherice täglich vor 6 Uhr Früh auf, um erst spätnachts von ihrer Arbeit heimzukehren. Um ihre vier Kinder ernähren zu können, macht sie bis zu fünf Jobs gleichzeitig.

1986 ist Patrisse drei Jahre alt, da reaktiviert Ronald Reagan den von Richard Nixon 1971 ausgerufenen War on Drugs. Die auf den Straßen permanent präsente Polizei wird weiter militarisiert.

Am Himmel kreisen Hubschrauber mit Suchscheinwerfern und an den Eingängen zu Schulen und öffentlichen Gebäuden stehen Metalldetektoren.

Gerichtliche Verfügungen über „Gangs“ machen legale Aktivitäten wie Busfahren oder Freunde von der Arbeit abholen für Leute, die ins Visier genommen werden, zu etwas Illegalem.

Die Zahl der Gefängnisinsassen wird sich in ganz Kalifornien bis zum Jahr 2000 verfünffachen.

„Ab dem Moment, als die Rassentrennung formell beendet wurde, fanden amerikanische Politiker Myriaden anderer Wege – alle gesetzlich verankert und vermeintlich legal – um sicherzustellen, dass der Terror, der schon immer die primäre Erfahrung Schwarzer Menschen in den USA gewesen war, weiterging.“ Patrisse Khan-Cullors

Patrisse ist neun Jahre alt, als Polizisten in Kampfmontur ihre Wohnung stürmen. Sie schreien die Kinder an, durchwühlen ihre Zimmer und suchen einen Onkel, der hier nicht wohnt.

Buchcover "When they call you a terrorist"

canongate

In diesem Alter wird Patrisse auch Zeugin, wie ihre beiden Brüder, die nur wenige Jahre älter sind und draußen spielen, von Polizeibeamten festgehalten und erniedrigt werden.

„Danach verlieren weder Paul noch Monte ein Wort darüber, was ihnen passiert ist. Sie werden auf eine Weise schweigen, wie man das von Vergewaltigungsopfern kennt.“

Diesen Vorfall aus ihrer Kindheit hatte Patrisse verdrängt. Er fällt ihr erst Jahre später plötzlich wieder ein, als im Fernsehen über den Jugendlichen Mike Brown aus Ferguson berichtet wird, der von einem Cop mit Kopfschüssen getötet wird.

Während ihre Brüder immer öfter wegen Bagatelldelikten von der Polizei mitgenommen werden, erfährt Patrisse, wie die Welt außerhalb ihres Viertels Van Nuys funktioniert: sie wechselt auf eine Schule im reicheren weißen Viertel Sherman Oaks, wo andere Gesetze gelten, der Rasen in den Parks wird hier bewässert, das Gras ist buchstäblich grüner.

Schlagartig wird Patrisse bewusst, dass ihre Familie arm ist. Und als sie zum Essen bei einer weißen Schulfreundin eingeladen ist und der Vater des stabilen Familienhauses sie ehrlich und freundlich nach dem Befinden ihrer Familie, nach ihren eigenen Plänen für ihre Zukunft fragt, ist sie sprachlos. Nie zuvor hat sie ein Erwachsener so respektvoll behandelt.

Kurz darauf fragt sie der weiße Familienvater, wo sie denn wohne und als sich herausstellt, dass derselbe freundliche Mann tatsächlich der Besitzer der desolaten Wohnanlage ist, in der Patrisse und ihre Familie auf engstem Raum zusammenwohnen, wird aus dem Staunen kognitive Dissonanz, die Irrationalität der rassifizierten Klassenverhältnisse ist spürbar.

Marissa Johnson prevents Bernie Sanders from speaking

CC BY SA 2.0 von Tiffany von Arnim

CC BY SA 2.0 von Tiffany von Arnim via Flickr. Seattle, 8. August 2015: Marissa Johnson und Mara Willaford von #BlackLivesMatter unterbrechen eine Wahlveranstaltung von Bernie Sanders, um über Rassismus zu sprechen

Patrisse ist 11 und es folgt der nächste Realitätsschock: ihre Mutter erzählt ihr, dass ihr Vater gar nicht ihr leiblicher Vater ist, den soll sie noch am selben Tag kennenlernen: Gabriel war jahrelang wegen eines „nonviolent drug crime“ im Gefängnis und ist jetzt endlich entlassen worden.

Die neue väterliche Liebe ist heilsam. In täglichen Telefonaten mit Gabriel und ihrer neuen katholischen Familie väterlicherseits findet die Heranwachsende ein Stück von sich selbst.

„Ich fange an, mich in meiner eigenen Haut, mit meinen Sehnen, Knochen und meinem Blut wohlzufühlen.“

Patrisse begleitet ihren Vater zu 12-Schritte-Treffen, wo sie erwachsene Männer sieht, die sich weinend ihrer Suchtkrankheit stellen, und wo sie erfährt „wie radikal, wunderschön, und zutiefst verändernd es ist, öffentlich Rechenschaft abzulegen vor einer Gemeinschaft, die sich dafür versammelt hat."

Die sozialen Folgen der US-Gefängnisindustrie

Patrisses geliebter (Halb-)Bruder Monte, mit dem sie Beverly Hills 90210 im Fernsehen sieht und der so gerne streunende Katzen und Hunde füttert, landet erstmals mit 13 Jahren wegen einem Bagatelldelikt hinter Gittern.

Viel zu spät wird festgestellt, dass er dort gefoltert worden ist. Als Monte in Unterhose, T-Shirt und Flip-Flops aus dem Gefängnis entlassen wird, glaubt die Familie zunächst, dass er sich schon wieder erholen wird. Doch er ist psychisch schwer krank und die gerufenen Rettungs-Sanitäter sagen, sie dürfen keine Haftentlassenen mitnehmen. Monte droht deshalb, sofort wieder in Haft genommen zu werden und bricht vor Panik zusammen. Die überforderte Familie ist wieder in einer traumatisierenden Stress-Situation.

„Wenn Leute mich fragen, wie wir diese Zeit durchgestanden haben, dann erzähle ich ihnen von meiner Mutter Cherice.“

Die Washington Post berichtet, dass über 356.000 schwer psychisch kranke Menschen in US-Gefängnissen stecken, zehn mal so viele wie in staatlichen psychiatrischen Kliniken. Patrisses Bruder Monte verbringt zwischen seinem 13. und seinem 36. Lebensjahr - trotz Krankheit - die meiste Zeit in Gefängnissen.

Und als Patrisses Vater Gabriel ihr nach wenigen Jahren der Verbundenheit vom Gefängnissystem wieder genommen wird, zieht ihr das den Boden unter den Füßen weg.

„Gefangene sind wertvoll. Sie arbeiten nicht nur für einen Hungerlohn für die großen Marken, die meine Mitbürger so lieben, sondern sie liefern auch Jobs für die meist arme weiße Bevölkerung, indem sie in ländlichen Gegenden verlorene Jobs ersetzen. Arme Weiße, die als Wachpersonal arbeiten.“ Patrisse Khan-Cullors

Patrisses Mutter Cherice, die wegen ihrem vermeintlich gescheiterten Leben von ihrer Zeugen-Jehovas-Gemeinde verstoßen worden ist, weigert sich, selbst irgendwen zu verstoßen und erzieht ihre Kinder dazu, füreinander zu sorgen.

Diese Verbundenheit und die innige Freundinnenschaft mit Schulkameradinnen, die mit Patrisse gemeinsame Tagebücher schreiben, geben ihr Kraft.

Später entdeckt Patrisse ihre Bisexualität, hat erfüllende und dramatische Liebesbeziehungen mit Frauen und platonische Liebesbeziehungen mit Jungs.

Assanta Shakur Chant

Assanta Shakur

Über progressive Lehrerinnen und lokale Organisationen wie die BusfahrerInnengewerkschaft Strategy Center findet Patrisse Khan-Cullors zum politischen Aktivismus, während sie ein Studium der Religionswissenschaften beginnt und sich künstlerisch betätigt.

Als ihr Bruder Monte nach einem Nervenzusammenbruch in Folge eines Autounfalls tatsächlich wegen „Terrorismus“ angeklagt wird und ihm aufgrund des Three-Strike-Gesetzes lebenslängliche Haft droht, nimmt Patrisse diese Familienkrise als politischen Angriff wahr und informiert diesmal befreundete Aktivistinnen, um Geld für einen Anwalt zu sammeln.

Im Gerichtssaal wird Monte gefesselt, halb bewusstlos und mit Spuck-Schutz vorm Gesicht wie Hannibal Lecter vorgeführt. Für Montes Mutter Cherice ist das zu viel.

„Sie, die ihr Leben lang Zurückhaltung als Waffe gegen die Angriffe der Welt geschärft hat. Diese Waffe ist in diesem Gerichtssaal zerbrochen, und jetzt weint sie haltlos. Sie schluchzt. Dabei würgt sie diese Worte heraus: Ich fühle mich so schuldig. Das irritiert mich, warum sollte meine Mutter, unsere Mutter, sich schuldig fühlen?“

Blacklivesmatter

Blacklivesmatter

Die historische Versklavung und die andauernde Unterdrückung Schwarzer Menschen durch Weiße ist peinlich, sie beschämt und erniedrigt.

Darüber zu sprechen, offen die Zusammenhänge aufzuzeigen und den Schmerz auszudrücken, ist ein Schritt der Befreiung.

Erinnern, Benennen, Verstehen, Heilen

So sind die Kapitel über ihre eigene Biographie, die Arbeit an der Heilung ihrer Familie, die Vorgeschichte von #BlackLivesMatter, die im „Drogenkrieg als ethnische Säuberung“ und im Kampf gegen die Profitlogik des Prison-Industrial-Complex liegen, die erschütterndsten und zugleich erhellendsten Teile des Buches.

Nachdem sie ihren Bruder vor lebenslanger Haft retten kann und nachdem die Polizei ihr neues, in einem wohlhabenden Künstlerviertel gelegenes Zuhause nachts stürmt, gründet Patrisse die Initiative Dignity and Power Now und wird Teil des bundesweiten #BlackLivesMatter-Movement, als dessen Namensgeberin sie auch zu den Protesten für die Anklage des Mörders von Michael Brown nach Ferguson, Missouri, fährt.

Die Stadt Ferguson im Ballungsraum St.Louis ist im Ausnahmezustand, im Kriegszustand gegen die eigene Bevölkerung.

Vor der Tötung von Michael Brown hat eine Politik der „staatlichen Beschlagnahmung“ hier eine rund 3 Milliarden Dollar schwere Industrie geschaffen. Die Polizei vergibt Strafmandate für möglichst viele kleine Vergehen und konfisziert Bargeld, Autos, Häuser, um die Ressourcen auszugleichen, die durch Einsparungen fehlen. Dadurch ist ein System entstanden, das ans Schutzgelderpressen der Mafia erinnert, wie der Atlantic schreibt.

Mit dem eingenommenen Geld wird Kriegsgerät gekauft, um die Macht der Polizei zu erweitern.

„Es brauchte keinen Beweis oder keine Anklage, um Bargeld, Autos und Häuser zu enteignen, was die Polizei im ganzen Land auch routinemäßig tat, wobei die Beweislast bei den Menschen lag, die man auf die Weise beraubt hatte."

Dass das Leben unschuldiger Teenager für den entfesselten Polizeiapparat geopfert wird, ist unerträglich. Aus allen Bundesstaaten reisen DemonstrantInnen an und stellen sich der übermilitarisierten Polizei entgegen.

Buchcover Black Lives Matter deutsche Ausgabe

Kiepenheuer & Wietsch

#BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben - Aus dem amerikanischen Englischen von Henriette Zeltner. Mit einem Vorwort von Angela Davis

In einer Kirche richtet die Bewegung ihr Hauptquartier ein. "Menschen, die seit Wochen protestieren, kommen hier in einen nur von Kerzen erleuchteten Raum, wo eine Gruppe Heiler sich für Massagen, Akupunktur und Gesprächstherapie bereithält. Es gibt einen Altar für Verstorbene, Kissen, um sich darauf auszuruhen. Wir wollen uns das ganzheitliche Menschsein von nichts und niemandem absprechen lassen.“

Auch wenn die Rassisten das anders sehen - die Bewegung hat Erfolge: die University of California storniert ein 30-Millionen-Dollar-Investment in privatisierte Gefängnisse, in Texas ist ein Boulevard nach Sandra Bland benannt worden, die in Polizeigewahrsam zu Tode gekommen ist, die Idee der Community Control, der direkt-demokratischen Kontrolle von Gefängnissen und Polizei, beginnt sich durchzusetzen und die Selbsthilfe- und Heilungsprogramme für vom Staatsrassismus zerstörte Communitys und Familien zeigen mehr und mehr Wirkung.

Derweilen wird die #BlackLivesMatter-Bewegung global und ist mit Blick aufs Mittelmeer auch in Österreich angekommen.

Patrisse Khan-Cullors nun erschienenes Buch ist für Schwarze und Weiße, für politisch Interessierte und für alle in der Gegenwart Lebenden eine kämpferisch-spirituelle Pflichtlektüre.

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