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Cover der Graphic Novel "Der Riss"

avant Verlag

Europa kriegt Risse

Rund um Europa verläuft ein massiver Riss. Auch in Europa gibt es kleine Risse. Warum es jetzt wichtig ist, an Europa zu glauben, zeigen ein spanischer Reporter und ein Fotograf in der Foto-Reportage „Der Riss“.

Von Zita Bereuter

Der Fotograf Carlos Spottorno und der Reporter Guillermo Abril sollen 2013 für die spanische Zeitung „El País“ eine Reportage über die Grenzen Europas machen. Drei Jahre später beenden sie die Arbeit mit 25.000 Fotos und 15 vollen Notizbüchern. Das Ergebnis sind etliche Artikel und der World Press Photo Award. Die beiden wollen ihre unglaublichen Erlebnisse aber noch weitererzählen und machen aus dem vielen Material die einzigartige Graphic Novel „Der Riss“.

2013 beauftragt die größte spanische Tageszeitung den Fotograf Carlos Spottorno und den Journalisten Guillermo Abril mit einer Reportage über die Außengrenzen Europas.

Melilla

In der Reportage sollte unbedingt die spanische Exklave Melilla in Marokko dabei sein, ein Stückchen Spanien in Afrika. Diese kleine Stadt wird von mehreren meterhohen Zäunen umgeben, bestückt mit verhängnisvollem und gefährlichem Stacheldraht – dem „Nato-Draht“. An dieser Grenze treffen nicht nur zwei Kontinente, sondern zwei Welten aufeinander.

Hier ist die Grenze zwischen Europa und Afrika. 650 Männer und Dutzende Kameras bewachen den Zaun rund um die Uhr. Der Zaun wurde lange getestet und für Menschen als unüberwindbar verkauft. Flüchtlinge überwanden ihn in der ersten Nacht, erklärt ein Oberst im Buch. Afrikanische und auch syrische Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um dort nach Europa zu gelangen.

Guillermo Abril und Carlos Spottorno zeigen bedrückende Bilder und Gegensätze in Melilla: Man sieht eine syrische Familie, die auf einem muslimischen Friedhof unter Zeltähnlichen Konstruktionen lebt, während im Hintergrund auf einem Golfplatz ein Paar seinen Trolley über den Rasen schiebt.

Zwei Welten auf einem Foto.

Abril und Spottorno sind investigativ unterwegs. Sie unterhalten sich mit Flüchtenden, Einheimischen, Polizisten, Grenzbeamten und Politikern und sammeln unterschiedliche Sichtweisen und Stimmen.

2013 reisen sie nach Lampedusa und begleiten das Schiff Mare Nostrum während eines Einsatzes auf dem Mittelmeer. 200 Flüchtlinge werden gerettet – für die Reportage dazu gewinnen die beiden den World Press Photo Award.

Babys und Kinder wurden damals zuerst auf das Boot gehoben. Diese Rettungssituation hat den damaligen Jungvater Guillermo Abril am meisten schockiert. Auf einem Rettungsboot seien zwei durch einen Riss getrennte Welten zusammengetroffen. Ein Foto dieser Rettungssituation ist auf dem Cover abgebildet.

Auf Sizilien besuchen Spottorno und Abril das größte permanente Flüchtlingslager dort, fotografieren an der türkisch-bulgarischen Grenze – wo der Zaun übrigens von der gleichen Firma stammt wie in Mellila. Und sie
dokumentieren 2015 das Elend auf der Balkanroute.

Kaliningrad

Ab 2015 richtet sich ihr Blick weit nach Osten. Zum Beispiel nach Kaliningrad, das ehemalige Königsberg. Kaliningrad ist eine russische Enklave an der Ostee und ist von Litauen und Polen umschlossen.

Heute ist es eine russische Enklave und weil es der kürzeste Weg von Russland an den Atlantik ist, auch eine der militarisiertesten Gegenden der Welt, schreiben die beiden. Prompt werden sie dort auch von einem Spitzel verraten.

Cover der Graphic Novel "Der Riss"

avant Verlag

Guillermo Abril (Text) und Carlos Spottorno (Fotos): Der Riss. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant Verlag

Leseprobe von „Der Riss“

In einem Auffanglager treffen sie auf Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetrepublik. Die meisten sind Muslime. „Wir besichtigen ihre Zimmer. Ein teschetschenischer Traktorfahrer namens Islam erzählt uns von Entführungen von vermummten Männern, die in die Häuser eindringen und Menschen verschleppen.“ Man sieht trostlose, erschöpfte und traurige Gesichter von müden Eltern. „Und so beschreiben sie die Tore Europas: Eine Grenze zwischen der gefährlichen und der sicheren Welt.“

Im Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine treffen die beiden auf Militär aus den USA, Großbritannien und Lettland und fotografieren Panzerübungen. Es sind surreale Bilder, die man kaum in Europa vermuten würde.

Hier haben die beiden das Gefühl, die Trommeln des Kalten Krieges immer noch zu hören. Für den Fotografen Carlos Spottorno war die permanente Angst der Bevölkerung vor einer russischen Invasion das Überraschendste.

Spottorno und Abril schauen zu und schauen hin. Was die beiden zeigen, ist kein einmaliges Ereignis. Das ist Alltag. Europäischer Alltag. Elendiges und trostloses Leben rund um Europa. Sie zeigen Menschen, die sich im Wald verstecken, tröstende Eltern inmitten von Menschenmassen, oder Menschen, die sich durch Fenster in einen Zug quetschen.

Aus dem Fotobuch wird eine Graphic Novel

Auf den Reisen von Spottorno und Abril sind über 25.000 Fotos entstanden. Den ursprünglichen Plan, daraus ein Fotobuch mit 70 bis 80 Fotos zu machen, haben sie schnell geändert, schließlich sei das Thema EU derzeit sehr wichtig. Man wisse nicht, wohin sich die EU bewege.

Stattdessen haben sie ihre Fotos und Eindrücke in einer Graphic Novel verarbeitet. Dass diese funktioniert, liegt an der einheitlichen Bildbearbeitung Spottornos. Er hat die Farben aller Fotos entsättigt und den Schwarzwert erhöht. Die gut 750 Bilder wirken so einheitlich und auch etwas grafischer. Zu diesem visuellen Gesamterlebnis kommen die kurzen Texte von Guillermo Abril, in denen er für sie beide erzählt und mitunter auch ihre Gefühle oder Gedanken beschreibt.

Appell für Europa

Das letzte doppelseitige Foto zeigt einen verschneiten finnischen Grenzübergang bei -30° Celsius. Vor dem Grenzbalken stehen in dicke Jacken gehüllt sieben Menschen: zwei aus Kamerun und eine Familie mit drei Kindern aus Afghanistan. “Es ist, als schaue man in einen Spiegel. Wer sie anblickt, sieht in Wirklichkeit die Welt, wie sie ist. Man sieht den Orient und seine Kriege. Das Elend in Afrika. Im Hintergrund Russland. Und man sieht auf dieser Seite auch Europa, einen sicheren, friedlichen Ort: die Union, den Raum von Frieden, den Reichtum. Und auch all seine Risse.“

Am Mittwoch, 31. Jänner wird „Der Riss“ in einer Stunde Homebase Spezial vorgestellt - von 21:00-22:00 Uhr.

Am Donnerstag, 1. Februar ab 18:30 Uhr, sind Carlos Spottorno und Guillermo Abril im International Institute for Peace (IIP) in Wien zu Gast

Sie seien keine Politiker oder Philosophen, sondern Journalisten, die viele Dinge gesehen hätten und die sie nun auch erzählen und zeigen. Denn das, was sie gesehen hätten, habe ihr Denken verändert, erklärt Guillermo Abril. Die beiden glauben an Europa. Auch wenn vieles in Europa nicht funktioniert, Europa ist ein friedlicher Ort für den wir eintreten sollen.

Letztlich ist diese Graphic Novel eine Warnung – eine Aufforderung für Europa einzustehen. Denn auch wenn viele das gern kleinreden – Europa ist eine der sichersten und lebenswertesten Weltregionen.

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