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Tocotronic Artwork zu "Die Unendlichkeit"

Michael Petersohn / universalmusic

In die Unendlichkeit und noch viel weiter

Autobiographie als Platte: Tocotronic dürfen das. Und sie können es auch. Auf ihrem soeben erschienenen Album „Die Unendlichkeit“.

Von Katharina Seidler

Das erste Verliebtsein, süße Verwirrung, stürmischer Kontrollverlust. Das Grinsen will nicht vom Gesicht weichen und sogar der Mief der Kleinstadt duftet neuerdings nach Frühling. Wenn Tocotronic auf ihrem aktuellen Album von neuen Freiheiten und erwachenden Gefühlen erzählen, tun sie dies unvermittelter als zuletzt. Die Theorie-Referenzen und Diskurs-Ausflüge, die das Werk der Hamburger im Lauf der letzten Platten streckenweise verklausuliert haben, sind einer direkteren Sprache gewichen.

Ich lebe in einem wilden Wirbel
der mich dreht
und mich über die
Dächer weht

Tocotronic live in Österreich:

  • 13.4.2018 republic Salzburg
  • 28.7.2018 Arena Wien

Tocotronic erzählen auf ihrem zwölften Album von sich selbst. Am Ende ihrer letzten, der „roten“ Platte, die sich in Kreisen und sehnsüchtigen Bildern dem ewigen Thema Liebe annähert, steht der Hidden Track „Date mit Dirk“, in dem Sänger Dirk von Lowtzow auf sich selbst trifft: Wir streunen durch die Wälder, und sehen unsere Spiegelung. Wenn man auf die Verbindungslinien zwischen bereits früheren Tocotronic-Alben achtet, fällt es nicht schwer, diese Selbstbegegnung bereits als - vielleicht damals noch unbewussten - Verweis auf die kommende, vertonte Bandbiographie zu sehen.

Tocotronic geht es auf „Die Unendlichkeit“ laut Eigenaussage „um nicht weniger als alles“.

Dass diese auch noch den Titel „Die Unendlichkeit“ trägt und es in ihr laut Eigenaussage der Mitglieder „um nicht weniger als alles geht“, macht es Tocotronic-Kritikern nicht schwer, sich in ihrem Eindruck einer selbstverliebten und affektierten Band bestätigt zu sehen. Sie haben Unrecht.

Denn wenn Tocotronic über das Aufwachsen abseits der Großstadt oder die Verlockungen und Verheißungen der Popmusik singen, über lange Nächte und große Lieben, dann sind ihre Lieder natürlich auch ein Angebot an die Hörer, sich selbst darin zu finden. Die elektrische Gitarre wird für den Jugendlichen das Fenster zur Welt: Ich erzähle dir alles und alles ist wahr. Electric Guitar. Allzumenschliches Zaudern und Scheitern sind dabei wie immer Teil des Ganzen, ob als Erwachsener oder kindlicher Außenseiter:

Du rennst zum Karussell
All die bunten Lichter
Ängstigen dich
Tapfer und grausam
bist du nicht

Die Musik auf „Die Unendlichkeit“ passt sich sorgfältig der Zeit und Situation an, von der der Text erzählt. So prescht „Hey Du“ über das Angepöbelt-Werden als modischer Jugendlicher in der Fußgängerzone nicht nur textlich nach vorne, sondern erinnert auch musikalisch an die ungestüme Frühphase von Tocotronic, während die nächtlichen Fragen eines Zweiflers in „Ich würd’s dir sagen“ nur einen intimen Akustik-Gitarrenrahmen bekommen.

Cover Tocotronic "Die Unendlichkeit"

Vertigo / Universal

„Die Unendlichkeit“ von Tocotronic ist am 26. 1. 2018 bei Vertigo/Universal erschienen.

Einen zentralen Platz in der Album-Dramaturgie nimmt der Song „Unwiederbringlich“ ein, ein intimes Kammermusik-Stück, das ebenso wie zu K.O.O.K.-Zeiten der Track „17“ vom Tod eines engen Freundes handelt. Zu minimalistischen Klarinetten-Motiven von PauT, orchestriert und arrangiert von Paul Gallister, zieht darin eine verschneite Landschaft am Zugfenster vorbei, während anderswo im Krankenzimmer ein Leben zu Ende geht: Es gab noch keine Handys, nur an Bord ein Telefon. Als ich endlich ankam, wussten’s alle schon. Traurige Zärtlichkeit spiegelt sich im titelgebenden „Unwiederbringlich“ ebenso wider wie die Brutalität des Verlusts. Kein Wunder, dass auch Tocotronic selbst im Gespräch die Bedeutung der Nummer für das Album und ihr Leben im Allgemeinen herausstreichen.

Am Schluss des zwölften Longplayers steht als Songtitel einer dieser Tocotronic-Sätze, die unverhohlen nach den Sternen greifen und als T-Shirt-Slogans verwendet oder zum Lebensmotto werden können: „Alles, was ich immer wollte, war alles“. Dirk von Lowtzow nimmt darin die eigene, vertonte Autobiographie auf die leichte Schulter - Was ich geschrieben habe, wird jetzt ausradiert (...) Papier und Graphit und Vinyl, auf den Müll damit - und findet das Glück im Gemeinsamsein mit Anderen: Bitte verlasst mich nicht. Es ist also Platz für Neues, es geht weiter, auch nach der Unendlichkeit.


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