Everything Is Recorded
Von Christian Lehner
Am Ende des Gesprächs hat er seinen orangefarbenen Sweater zu einem Turban um den Kopf gewickelt und sitzt barfuß im Schneidersitz auf der Couch. Richard Russell, Mitte 40, ist ein Rave-Hippie. Er zählt zu der Generation Acid House, Happy Hardcore und Warehouse Rave. Ende der achtziger Jahre hatte wieder einmal eine Generation von UK-Kids die Schnauze voll von einer Gesellschaft, die laut Landesboss gar nicht existieren würde.
Anstatt grimmig in den Nihilismus zu starren, oder auf Demos herumzustehen, setzten diese jungen Leute auf neue Formen des Aufbegehrens. Mittels illegaler Partys und Drogen zelebrierten die DIY-Clubkids einen teils zwangspolitisierten Hedonismus (Dance Ban = CJA 1994). Das im Pop so wichtige Star-Prinzip war verpönt, die Musik kam von den Turntables, vom Sampler und dem Sequenzer und man forderte nichtkommerzielle öffentliche Freiräume (Reclaim The Streets).
„Move Your Ass And Your Mind Will Follow“, lautete eine viel zitierte Parole der damaligen Zeit. Heute sind die Kinder von Ecstasy und Strobo entweder in Rave-Pension gegangen, oder sie haben als Körper-Geist-Einheit überlebt und leiten Plattenfirmen (siehe Coldcut von Ninja Tune) oder brüllen in irgendein MC-Mikro noch immer für den Beat und gegen das System (siehe Sleaford Mods).
Von Gil Scott Heron bis Arca
Richard Russell hat sich für die zweite Variante entschieden. Anfang der Neunziger landete der DJ und Produzent aus London mit dem Rave-Anthem „The Bouncer“ unter dem Pseudonym Kicks Like A Mule in Großbritannien einen frühen Hit der Bewegung. Dann stieg er bei dem Dance-Imprint XL-Recordings ein. Dort ist er seitdem für den Sound zuständig. Und für mehr. Für viel mehr. Russell ist einer, der den richtigen Riecher für frisches Talent hat. Er beteiligte sich an der kleinen Plattenfirma und erfüllte – neben seiner Studiotätigkeit – die Funktion des A&R, ohne bei XL je offiziell als Talente-Scout aufzutreten.
„Everything Is Recorded“ von Richard Russell ist auf XL-Recordings erschienen.
Außerdem öffnete er das Dance Label relativ bald für andere Genres. Das brachte XL-Recordings zunächst Kritik vom Tanzflur ein, denn man dachte bis tief in die Neunziger noch eher in Pop-Schubladen, die sich ästhetisch nicht so gut ineinander verschieben ließen. Doch die stilistische Offenheit sollte sich im aufkommenden digitalen Zeitalter als äußerst erfolgreiche Strategie erweisen.
Russell entdeckte, förderte und produzierte Acts wie The Prodigy, M.I.A., The xx, Arca und eine Soulsängerin namens Adele - die erfolgreichste Popmusikerin der Gegenwart. Daneben verhalf er verdienten, aber scheinbar abgelegten Musikern wie Bobby Womack oder Gil Scott Heron zu viel beachteten Spätwerken. Die Sunday Times schätzte 2017 das Vermögen des XL-Co-Besitzers, dessen Firma mittlerweile zu 50% im Beggars-Konglomerat von Martin Mills aufgegangen ist, auf 120 Millionen Pfund.
Nun hat Russell mit 46 Jahren als Everything Is Recorded ein spätes Debütalbum vorgelegt und wir haben in Berlin eines der sehr seltenen Interviews mit ihm ergattert. Heute Abend öffnet Russell für eine Homebase-Stunde lang sein Herz und seine Erfahrung. Wir erhalten Einblick in die Labelphilosophie von XL-Recordings, die Arbeit als Produzent und Russells schwere Autoimmunerkrankung, deren Überwindung ein Ankick für sein spätes Albumdebüt war.
Die Playlist der heutigen Sendung
The Prodigy | Poison |
King Krule | Biscuit Town |
M.I.A. | Sunshowers |
Adele | Rolling In the Deep_Jamie xx Shuffle |
Gil Scott Heron | Me And The Devil |
Arca | Reverie |
Everythins Is Recorded | Mountains Of Gold feat. Sampha, Ibeyi, Wiki and Kamasi Washington |
Everything Is Recorded | Close But Not Quite feat Sampha |
Jack White | Connected By Love |
New Gen | Rather Get Money feat. TE dness |
Publiziert am 22.02.2018