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MARC CARNAL

Seit wann fallen Fans eigentlich nicht mehr in Ohnmacht?

Teenager-Verhalten bei Pop-Konzerten in den 90ern: Reihenweise in Ohnmacht fallen. Teenager-Verhalten bei Pop-Konzerten heute: Instagram Storys aufnehmen. Was ist geschehen?

von Marc Carnal

Titelbild: CC BY-SA 2.0 / Magnus Manske

Zu den prägenden TV-Momenten der 90er gehörten die Gastspiele von Michael Jackson bei “Wetten, dass..?” Ich könnte meine Erinnerung daran jetzt mit youtube-Videos abgleichen, werde den ungefähren Ablauf dieser bizarren Auftritte aber aus dem Gedächtnis nacherzählen. Michael Jackson bei “Wetten, dass..?” war ungefähr so:

Thomas Gottschalk kündigt zwanzigmal an, dass dieses Mal Michael Jackson zu Gast ist. Bei jeder Ankündigung kreischen in den oberen Rängen Fans aus Leibeskräften “MICHAEL! MICHAEL! MICHAEL!”, bis der hilflos staunende Gottschalk sagt: “Jajaja….MEI LIABA!... Is ja gut… Jajaja…. Sooooo…… Michael kommt gleich, bitte! Ich BITTE euch!.... Aber jetzt hören wir bitte Herrn Lauterbach zu.”
Kurz hören alle Herrn Lauterbach zu, dann brüllt wieder jemand “MICHAEL!” und schon wird wieder gekreischt.
Das wiederholt sich unzählige Male, bis der Leibhaftige gegen 22 Uhr endlich tatsächlich auftritt. Er bewegt im grellen Bühnenlicht seinen dürren Leib und seine dürren Lippen zu einem seiner Gassenhauer.

Illustration Werner Gruber

Marc Carnal

Der verhängnisvolle Tod des Werner Gruber - So lautet der Titel eines Live-Hörspiels (richtig gelesen: LIVE-HÖRSPIEL!) aus der Feder von Herrn Carnal, der hiermit darauf hinweist, dass die heitere Provinz-Dystopie um eine Telefon-Astrologin, den niederösterreichischen Landeshauptmann des Jahres 2082 und TV-Physiker Werner Gruber ab Oktober im Kabarett Niedermair zur Aufführung gelangt.

Dann stellt sich Gottschalk neben die verloren lächelnde, bleiche Gestalt auf der Bühne und begafft minutenlang die nun völlig hemmungslos hyperventilierenden Groupies. Als sie endlich kurz verschnaufen, wispert Michael Jackson kaum hörbar “Hi” oder “I love you” und das Ganze geht wieder von vorne los. Gottschalk versucht es im väterlichen Ton mit “Is ja guuuuut” und “Er liebt euch ja auch”, aber die Entrückten machen keine Anstalten, das Greinen einzustellen. Zwischendurch schwenkt die Kamera in die erste Reihe auf den Bürgermeister von Stuttgart oder Mainz, der sich nun schon seit drei Stunden den Abend von den Jackson-Fans verderben lässt, aber professionell dreinschaut.

Nach einer Viertelstunde, in der Gottschalk und Jackson kein einziges Wort miteinander gewechselt haben, wird der unheimliche Jackson endlich in sein Sauerstoffzelt geschickt. Die Fans kreischen jetzt verzweifelt, weil der Popkönig weg ist und bekommen gar nicht mit, wer Wettkönig wird. Um Mitternacht ist die Sendung zur Erleichterung aller vorbei.

Ich war damals ungemein gefesselt von diesem ungreifbaren, kindlich-dämonischen Weltstar. Und hätte viel dafür gegeben, ein Konzert von Michael Jackson besuchen zu dürfen. War mir aber nie vergönnt. Überhaupt war ich noch nie auf einem großen, ich meine auf einem so richtig großen XXL-Stadion-Konzert der Kategorie Madonna. Als Teenager fehlte es mir an begleitwilligen Erziehungsberechtigten, später sprach mein stetig steigendes Unbehagen vor zu großen Menschenmengen dagegen.

In der heilen Offline-Welt der 90er war meine Vorstellung von großen Live-Konzerten durch die Bravo und vereinzelte Fernsehbeiträge geprägt. In den Berichten über Auftritte der Backstreet Boys oder der Kelly Family wurde häufig erwähnt, wie viele Fans beim Anblick ihrer Idole wieder mal in Ohnmacht gefallen waren.

Immer dieselben Bilder, immer dieselben Fertigteil-Sätze. “Stundenlang” harrten die jugendlichen Fans immer aus, um in der ersten Reihe ihre “Idole einmal hautnah zu erleben”, und als NSYNC dann die Bühne betraten, fielen die “kreischenden Teenies reihenweise um” und hatten wieder einmal ihr ganzes Taschengeld dafür investiert, erstversorgt und abtransportiert zu werden.

Im Berliner Kurier vom 9. März 1996 steht zu diesem Thema Folgendes geschrieben:

Sie heulen, schreien. Sturzbäche von Tränen rinnen da über erhitzte Wangen. Und dann fallen sie in Ohnmacht. Es ist immer dasselbe Bild: Ein paar Sekunden stehen sie stumm, mit gefrorenem Gesichtsausdruck, mit offenem Mund und in totaler Starre. Dann sacken sie in sich zusammen, wie Gliederpuppen, die zu Boden fallen. Grundsätzlich, so muß man feststellen, hat die Teenager-Ohnmacht ihre Ursache ganz einfach in dem hormonellen Durcheinander der Pubertät. Wenn man beim Anblick eines Popstars zudem schreit wie am Spieß und dabei zuwenig Luft holt, bekommt das Gehirn keinen Sauerstoff mehr, und man wird bewußtlos.

Der Mangel an Sauerstoff in den Hirnen der “Gliederpuppen” klingt nach einer schlüssigen Erklärung. Doch warum fallen die Teenager dann in den letzten Jahren kaum mehr in Ohnmacht? Sind es die modernen Lüftungsanlagen in den O2-Arenen dieser Welt, die eine hinreichende O2-Zufuhr in die Teenie-Köpfe gewährleisten? Und ist mein Eindruck überhaupt richtig, dass die bewusstlosen Hundertschaften auf Pop-Konzerten ein Relikt der 90er- und Nullerjahre sind?

Eine kurze Recherche nach Berichten über Ohnmachtsanfälle von Fans bestätigt den Eindruck. Natürlich haut es auch in den letzten Jahren Jugendliche aus allen möglichen Gründen um. Die einen kippen nach zwei Tagen Battlefield ohne Bildschirmpause vom Hocker, andere hungern bis zur Bewusstlosigkeit, wieder andere naschen zu ausgiebig am Crystal-Napf. Aber Popstars auf Hotelbalkonen, im ZDF oder auf Stadion-Bühnen? Man suche nach Berichten aus jüngerer Zeit und staune über die wenigen Funde.

Ich behaupte, wir haben es dem Internet zu verdanken, dass es die Fans nicht mehr umprackt. Stand man vor zwanzig Jahren plötzlich vor einem Weltstar, mochte die Erkenntnis, dass es diese ungreifbare Erscheinung aus einer mythenumrankten Glanzwelt wirklich gibt, schon eine kleine Herausforderung für das zentrale Nervensystem darstellen.

Durchkämmt man dagegen heute den hauseigenen Instagram-Feed, fügen sich die Guacamole- und Beach-Fotos der eigenen Friends gleichberechtigt mit Reise-Erinnerungen von Katy Perry und Spiegel-Selfies von Justin Bieber aneinander. Die Social Media-Aktivitäten von Weltstars und Ex-Mitschülern mit freiem Auge zu unterscheiden ist dabei nicht immer einfach. Ob das weltweite Jungvolk die Posen der Stars kopiert oder ob die Stars sich mit fingierter Authentizität bei ihrer Follower-Schar anbiedern, ist eine fade Henne-Ei-Frage, auf die ich keine Antwort weiß.

Vor einer Bühne samt Beyonce zu stehen dürfte jedenfalls heute ungefähr so breathtaking sein, wie auf einer Party mit jemandem ins Gespräch zu kommen, den man „von Facebook kennt“. In Ohnmacht wird da nicht mehr gefallen, vielmehr verhalten sich Konzertbesucher ungefähr wie bei einem durchschnittlichen Tinder-Date: Man ist kurz ein bisschen aufgeregt, eine Online-Bekanntschaft zu treffen und schaut nach ein paar Minuten gelangweilt ins Smartphone.

Das Aussterben der „großen“ Popstars, die von jährlich wechselnden Casting-Gewinnern und youtube-Monatswundern abgelöst wurden, wird meist auf die „Schnelllebigkeit des Geschäfts“ oder gar „unserer heutigen Zeit“ zurückgeführt.
Könnte der wahre Grund nicht sein, dass sich Popstars einfach nicht mehr wie Popstars verhalten?

Michael Jackson! Der hat sich noch wie ein richtiger Popstar verhalten, als ihm z.B. ein minderjähriger Schimpanse in seinem Vergnügungspark die Nase abgefackelt hat oder so ähnlich. Die tausenden haarsträubenden Legenden um dieses verstörende Kind im selbstgebastelten Körper waren es, die Jackson unbegreiflich und groß machten. Würde er heute noch leben und täglich Fotos aus dem Fitnessstudio posten, das Kreischen würde zusehends verstummen.

Bob Dylan hat - unabhängig von seinen musikalischen Schöpfungen - bis heute nichts an Glanz, Rätsel- und Fabelhaftigkeit eingebüßt. Eine Ursache dafür mag sein, dass er Snapchat verweigert.

Madonnas Nimbus des großen Weltstars bröckelt dagegen in jüngster Zeit erheblich. Das rührt, da bin ich mir sicher, nicht von mauen Verkaufszahlen, uninspirierten Alben oder fragwürdigen Adoptionen, sondern von besoffenen Instagram-Selfies. Entschuldigung, aber Madonna, DIE Madonna kann sich doch nicht die Timeline mit meinen Bürokollegen teilen!

Der inszenierte Wahrhaftigkeits-Overflow profanisiert, nein zerstört die einst ungreifbare Aura der Stars und hat den Ohnmachtsanfällen der Fans ein Ende bereitet.
So könnte man meine Theorie also in einem Satz zusammenfassen. Sie mag ihre Schwachstellen haben, aber so ist das halt bei selbstgebastelten Theorien.

Nachdem aus diesem Text jetzt plötzlich die Luft draußen ist, möchte ich ihn nicht unnötig aufblähen und beende ihn hiermit völlig unpassend:

In Superman kommen sämtliche Buchstaben von Sperma vor, noch dazu in der richtigen Reihenfolge.

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