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Todor Ovtcharov

Die kalte Kolumne

Es ist so kalt, liebe Leserinnen und Leser, dass ich zum Eiszapfen geworden war, als ich heute endlich die Straßenbahnstation in der Nähe meiner Wohnung erreichte. Ich erinnerte mich an die Straßenbahn, mit der ich als Kind immer vom Sofioter Randviertel Obelia zur Schule fuhr.

Von Todor Ovtcharov

Unser Viertel war vom restlichen Sofia durch ein riesiges, unbebautes Feld getrennt. Im Sommer weideten dort Kühe, im Winter blieb nur das dornige Gebüsch. Jeden Wintermorgen wackelte die alte, orange Straßenbahn durch das Feld. Sie kam an und von Weitem sah man den Fahrer, der dick eingepackt war. Oft gingen die Türen im Winter nicht zu. Wir kuschelten uns alle aneinander, eingewickelt in unsere Schals und Winterjacken. Draußen war es dunkel. Ich wollte schlafen. Alle kämpften gegen das Einschlafen, um nicht vom weißen Tod heimgesucht zu werden.

Straßenbahn in Sofia

Sludge G

Foto: flickr / CC BY-SA 2.0

Einmal, kurz bevor die Straßenbahn durch das Feld zog, stieg ein Mann ein. Er trug Sandalen und ein offenes Hemd. Eine weiße Stofftasche hing über seiner Schulter. Alle schauten ihn bestürzt an. Er lächelte uns nur an. Seine Tasche war voll mit Glasflaschen. Ein Fahrgast mit einem dichten Schnauzbart schrie den Zugestiegenen als Erster an: „Du wirst dich erkälten!“ Der Mann lächelte. Ein anderer sagte: „Hat dich deine Frau von zu Hause vertrieben!?“ Einige Fahrgäste lachten bitter. Vielleicht stellten sie sich die Szene vor, wie ihn seine Frau in die Kälte verjagt. Der Mann sagte nichts und lächelte. Das ärgerte die Fahrgäste. „Schaut ihn nicht an, er ist verrückt!“

Der Mann blieb ganz ruhig und die Straßenbahn fuhr durch das Feld. „Schaut ihn an, wie er komisch lächelt, bald wird er aggressiv und fängt an zu beißen“, sagte ein Mann mit einem dicken Schal. „Er ist besoffen - besoffen!“, schrie eine Frau in einem Pelzmantel. „Seine Tasche ist voller Flaschen!“ Die Hypothese, der Mann wäre betrunken, verbreitete sich rasch. Alle fragten sich, wie jemand so früh am Morgen betrunken sein könnte. Einige Analytiker meinten, dass er die Nacht durchgesoffen haben musste. Jemand klopfte ans Fenster des Staßenbahnfahrers, um auch ihn vor dem betrunkenen Fahrgast zu warnen. Der Fahrer tat lange so, als hörte er die ganzen Schreie nicht. Vielleicht wollte er seine Kabine nicht verlassen, die er mit seinem Atem erwärmt hatte. Endlich stoppte er die Straßenbahn, mitten im Feld, und kam heraus.

Der Fahrer ging zu dem Mann mit der Stofftasche, sagte etwas zu ihm und kehrte in seine Kabine zurück. Die Fahrgäste murmelten: „Wo ist die Staatsgewalt, wenn man sie braucht? Vielleicht ist der Fahrer auch betrunken? Vielleicht hat er gestern Nacht zusammen mit dem Nackten getrunken?“ Da öffnete sich eine Tür und der Mann mit der Stofftasche stieg aus, mitten im Feld. Die Tür ging zu und die Straßenbahn fuhr weiter. Einige Zeit noch sah ich den Mann mitten auf dem Feld stehen. Der Schnee und der Nebel verdeckten ihn. Ich sah ihn nie wieder.

Daran dachte ich, als meine Straßenbahn kam. Die Straßenbahnen in Wien sind beheizt. Wenn einer im Hemd einsteigt, wird er wahrscheinlich unbemerkt bleiben.

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