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Where the Water tastes like Wine

Dim Bulb Games

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Im Land der tausend Geschichten

Das Indie-Spiel „Where the Water tastes like Wine“ erzählt uns nicht nur eine Geschichte, sondern viele - und zeigt uns, wie sie sich verändern und ein Eigenleben entwickeln.

Von Rainer Sigl

Geschichtenerzählen ist eine hohe Kunst, denn eine gute Geschichte hat ein Eigenleben, wächst und verändert sich, bis sie vielleicht mit dem, was möglicherweise einmal tatsächlich passiert ist, nicht mehr viel zu tun hat. Zum Beispiel diese hier: Irgendwo in einem Wald läuft mir ein scheues Reh über den Weg, und als ich es vor dem Jäger retten will, läuft es vor einen Zug. Diese - wahre - Geschichte habe ich am Lagerfeuer irgendwo in Michigan erzählt – ein paar Wochen später höre ich sie in New Mexico wieder; nur ist das Reh inzwischen ein schneeweißer Hirsch und sein Tod ist ein dramatischer Selbstmord, um der Gefangenschaft zu entgehen. Aus Wahrheit ist Fiktion geworden. Dafür hat sie jetzt eine Botschaft, die über das schnöde Erlebnis hinausgeht.

Im Indie-Spiel “Where the Water Tastes like Wine” - Untertitel: „A Bleak American Folk Tale“ - ist unsere Welt voller solcher großer und kleiner Geschichten, die sich unentwegt weiterentwickeln. Als Landstreicher in den USA zur Zeit der großen Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre sind Geschichten auch beinahe die einzige Währung, die wir besitzen, während wir die endlose Weite des Kontinents durchqueren.

Pfeifend auf Wanderung

Und diese Durchquerung ist auch für Spielerinnen und Spieler keine kleine Unternehmung: Im Schneckentempo bewegt sich unsere Spielfigur über eine abstrahierte Landkarte der USA; auf Tastendruck können wir in einem minimalistischen Reaktionsspiel zum - übrigens durchwegs großartigen - Soundtrack aus hinreißendem Americana-Folk mitpfeifen und so unser Tempo minimal erhöhen. Die vielen Geschichten, die wir dabei überall finden oder selbst erleben, sind zentrales Spielelement, Währung und Hauptattraktion in einem.

“Where the Water Tastes like Wine” ist eine originelle Mischung aus Adventure, Interactive Novel und Strategiespiel mit einer großen Portion Atmosphäre. Seine stimmige holzschnittartige Grafik, seine wunderbar passende Musik und nicht zuletzt seine hervorragenden Sprecher lassen Stimmung aufkommen; als Erzähler begleitet uns sogar die rauchige Stimme von Gordon Matthew Summer, besser bekannt als Sting.

Where the Water tastes like Wine

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Auf der Suche nach dem Schlaraffenland

Unsere zentrale Aufgabe ist dabei wie erwähnt das Sammeln von Geschichten, die wir am Lagerfeuer anderen Landstreichern erzählen; bei diesem Teil des Spiels ist etwas Strategie gefragt. Wenn wir die Wünsche unserer Gesprächspartner nach spannenden, lustigen oder gruseligen Stories erfüllen können, lernen wir sie im Verlauf des Spiels in mehreren Begegnungen immer näher kennen und kommen so vielleicht auch dem titelgebenden Schlaraffenland auf die Spur, in dem kein Mangel herrscht und quasi Milch und Honig - oder eben Wein - fließen.

Diesem Ideal steht die Realität der Großen Depression gegenüber: Hungrige Landarbeiter, schwere Schicksale und Armut begegnen uns überall - in den Geschichten ebenso wie in der Spielwelt selbst.

Erschienen ist “Where the Water Tastes like Wine” für Windows, Mac und Linux.

“Where the Water Tastes like Wine” ist ein seltsames Spiel: Es ist mühsam und auch etwas langweilig, seine riesige Welt zu Fuß zu durchqueren, und es bietet spielerisch keine allzu große Herausforderung. Dass es dennoch faszinierend ist, ist den (zugegeben: nicht tausend, aber immerhin) über 200 Geschichten zu verdanken, die unterschiedliche Autoren beigesteuert haben.

In der Art, wie sich diese Stories verändern und immer wieder zu uns zurückkehren, bekommt man eine Ahnung von der Entstehung urbaner Legenden oder volksnaher Mythologien. Schon deshalb zahlt es sich für Freunde origineller Geschichten aus, sich dieses Experiment näher anzusehen - aber auch wegen des besonderen Styles, der dichten Atmosphäre und vor allem wegen des tollen Soundtracks.

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