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Szene aus Murer

Prisma Film / Ricardo Vaz Palma

Empathie nicht als Koketterie

Die Diagonale beginnt mit dem Eröffnungsfilm „Murer - Anatomie eines Prozesses“, einem Dokument für eine historische Verhandlung, die noch in der Gegenwart entsetzt.

Von Maria Motter

Wenn wieder ganz viele hübsche Menschen durch Graz flanieren, dann ist wieder Diagonale, schreibt ein Freund. Recht hat er! Und in den ersten Frühlingstagen, wenn ein bisschen Regen das Grau von den Straßen und dann vom Himmel wischt, schaut man wieder aufmerksam: in Gesichter und in Geschichten, die in 160 Filmen quer durch Laufzeiten und Genres bei der Diagonale geboten werden. Welch Glücksfall, ein Filmfestival in der eigenen Stadt zu haben!

„Jener Ort, an dem das öffentliche Gespräch dazu dient, uns auszumachen, wie wir zusammenleben wollen, ist die Politik“, erklärt Sebastian Höglinger einen allgegenwärtigen Begriff. Mit Peter Schernhuber leitet er die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, und es ist ihr drittes Jahr. Die letzten Wochen hätten leider gezeigt, dass über diesen Gemeinplatz Politik keine Gewissheit mehr herrsche. Die Politik drohe zum Marktplatz von Befindlichkeiten zu verkommen.

Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber mit dem steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer

Diagonale / Miriam Raneburger

Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber mit dem steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer

„Immer dort, wo sich Gesellschaft als Volk artikuliert, sind Zweifel und Skepsis angebracht. Wenn das Stammtischurteil zur Richtinstanz überhöht wird und die Gemeinschaft gegen die Gesellschaft in Stellung gebracht wird, ist Vorsicht geboten. Dann ist die Grenze nämlich nicht länger das Strafrecht. Ob am Stammtisch beim Dorfwirt, ob im Stammtisch beim Sterne-Restaurant oder auf einer dieser Buden ist letztlich einerlei“, sagt Sebastian Höglinger. Dem gelte es gegenzusteuern.

Der Diagonale-Eröffnung fern blieben der Grazer Bürgermeister (ÖVP) und der Vizebürgermeister (FPÖ), aber von letzterem ist mehrfach die Rede. War Mario Eustacchio doch vor kurzem auf einem rechtsextremen Kongress, wo er Folgendes gesagt hatte: „Die Vermehrungsrate der Einwanderer übersteigt jene der autochtonen Bevölkerung um ein Vielfaches. Setzt sich die Entwicklung fort, dann werden wir Fremde im eigenen Land“. Das thematisierte die Moderatorin des Abends, die deutsche Schauspielerin Julia Gräfner und auch das Intendantenduo.

Ingrid Burkhard bekommt eine Schultüte

Von Mundls Ehefrau über die Rolle als Mutter von „Toni Erdmann“ und Christoph Grissemann in „Drei Eier im Glas“ und vor kurzem im Drama „Die Einsiedler“ als Bergbäuerin - Ingrid Burkhard ist dem Fernseh- und Kinopublikum eine Vertraute. Dienstag Abend wurde sie mit dem Großen Diagonale Schauspielpreis ausgezeichnet und für ihre Kunst gewürdigt. Und sie bekam Kunst: Ein Objekt, das ihr wie eine große, allerdings leere Schultüte überreicht wird und von der Künstlerin Toni Schmale stammt, die Burkhard auf der Bühne stellvertretend für viele ZuschauerInnen herzte.

Ingrid Burkard mit Karl Merkatz

Thimfilm

Ingrid Burkhard und Karl Merkatz in „Echte Wiener“

„Ich bin schmähstad“, freute sich Burkhard, holte aber sogleich aus, erinnerte als Zeitzeugin an den sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 und mahnte: „Es kann und darf uns nicht passieren, dass ein öffentlich-rechtliches Institut uns nicht die Wahrheit sagt! Herrgott nochmal. Darum müssen wir wachsam sein.“ Applaus und Standing-Ovations.

Der Eröffnungsfilm „Murer - Anatomie eines Prozesses“

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen. Kein Mensch hat das Recht, nicht zu wissen“, paraphrasiert Regisseur Christian Frosch die Publizistin und Philosophin Hannah Arendt und will dann auch schon nicht mehr Worte verlieren, bevor sein neuer Spielfilm Premiere hat, als Eröffnungsfilm der Diagonale. „Murer – Anatomie eines Prozesses“ beginnt mit einem Aktendeckel: Franz Murer, steirischer Bauer und Nazi, hatte sich 1963 in Graz vor Gericht zu verantworten.

„Er war im deutschbesetzten Wilna stellvertretender Gebietskommissar gewesen. Vor dem Krieg hatten 80 000 Juden in der Hauptstadt von Litauen gelebt. Genau 250 waren noch am Leben, als es mit der Herrschaft der Nazis zu Ende ging“, schreibt Simon Wiesenthal im Jahr des Prozesses im Nachrichtenmagazin Spiegel unter der Überschrift „Doch die Mörder leben noch“. Und Doron Rabinovici schreibt im Standard vor einigen Jahren: „Sein Prozess im Graz der Sechzigerjahre verkam zum Tribunal gegen die Opfer“.

Genau diesen Prozess zeigt Christian Frosch mit durch die Gerichtsbänke sehr guten SchauspielerInnen und anhand eines Drehbuchs, dem die realen Protokolle der Hauptverhandlung zugrunde liegen. Das Publikum hört von einem Mord nach dem anderen, davon, dass dieser Murer Lust am Töten hatte und dem Vater eines vor dessen Augen aus nächster Nähe erschossenen Sohnes befahl, das Blut aufzuwischen. JüdInnen erzählen, wie sie Brot, Kartoffeln und ein Stück Fleisch ins von den Nazis errichtete Ghetto „schmuggelten“ und dafür misshandelt, andere von Murer erschossen wurden.

Szene aus Murer

Prisma Film / Patricia Peribanez

Diese Zeugenschaft, die Regisseur Christian Frosch hier nahezu dokumentiert, ist eindringlich vorgetragen. Das Gesicht eines jungen Mannes bibbert, das einer Frau zerrinnt geradezu, für Schreie des Entsetzens werden die ZeugInnen vom Richter ermahnt. Der Verteidiger behauptet, es handle sich schlicht um eine Verwechslung, die JüdInnen verwechselten seinen Mandanten. Dann unterstellt er, sie würden pauschal einfach den Deutschen an sich mit ihren Vorwürfen meinen, aber ganz sicher nicht Murer, diesen Anständigen, der es zu etwas gebracht habe. Stets ziehen sich die Mundwinkel des Verteidigers zu etwas, das gerade kein süffisantes Lächeln wird.

Verhöhnung der Opfer

Auf schmerzerfüllte Schilderungen von Verbrechen stellt der Anwalt immer wieder die Frage nach der Farbe der Uniform. Als ZuseherIn ist man dank der sich über weite Strecken des Films auf Close-ups und Halbtotalen beschränkenden Kamera direkt auf den Publikumsbänken, die Christian Frosch reich mit Typen gefüllt hat, obwohl das Interesse am historischen Prozess in Graz damals überschaubar war.

Schnitt und vor allem der Score und Sound sind beeindruckend. Beim Wort Gerichtsdrama denkt man an Hollywoodfilme mit Längen. Hier hat das Geschehen ein Tempo, das verhindert, dass man die Morde, die hier angeklagt werden, nicht mehr mitzählen kann. Das Bloßstellen, ja Verhöhnen der Überlebenden, der ZeugInnen gegen Murer, nimmt seinen Lauf und am Ende wird sich dieser Prozess in der Inszenierung doppeln, denn der damalige Justizminister Christian Broda intervenierte.

Es ist entsetzlich, nur allein in einem Spielfilm wie diesem vorgeführt zu bekommen, wie mit Überlebenden umgegangen wurde. (Moment - es ist ein Spielfilm, man selbst ein Zuschauer, weit ab. Wie das fiktionalisierte Erzählen historischer Fälle funktioniert, welche Chancen und Tücken sich da auftun, das zu erörtern, wären eigene Seminare). Wie man einen anderen Nazi und vielfachen Mörder einfach in dasselbe Hotel wie die Überlebenden einquartiert.

Aus dem Saal kommt man mit den Prozessbeteiligten: sitzt am Mittagstisch mit den Geschworenen, die Suppe gierig verschlingen und sich fragen, ob der Murer wirklich soviel Gold mitgenommen hat aus dem Krieg. Nur einem hat es den Magen verschlagen; man zieht sich mit dem Staatsanwalt in private Räume zurück und begegnet Simon Wiesenthal, der zu Beginn die historischen Daten zum Fall Murer klarmacht, sodass man auch mitkommt, ohne zuvor von Murer gehört zu haben.

„Graz ist nicht Jerusalem. Hier hätten sie sogar Eichmann freigesprochen“, sagt ein Überlebender an einer Stelle. Eine Gesangspassage wird vom Gericht unterbunden. So einen Hals habe ich nach dem Film, in dem penibel auf Details geachtet wurde, in dem im letzten Bild ein Schild einen Privatweg ausweist.

„Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein geglückter Spielfilm, der bedrückt und die Abscheulichkeit vor Augen führt, mit der das offizielle Österreich Überlebenden des Nationalsozialismus begegnet ist. Dass am Ende der Abspann über historische Fotos läuft, ist jedoch unpassend und ein No-Go. „Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein Spielfilm, nach dem man Dinge für sich recherchieren will. Wie das Lied „Wir leybn ejbig“ – das ist im Wilnaer Ghetto geschrieben worden ist, anlässlich eines Kompositionswettbewerbs. Die NationalsozialistInnen ließen zu ihren Massenmorden aufspielen.

Die Diagonale inspiriert

Die diesjährige Diagonale könnte man nützen, um sich ein Geschichtsaufarbeitungsprogramm zusammenzustellen. Das war in vergangenen Jahren nicht anders, verstärkt sich jetzt allerdings durch das historische Datum des sogenannten „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland vor 80 Jahren.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum, eine jüdische, internationale Nicht-Regierungs-Organisation hat erst 2017 in einem Bericht festgehalten, dass in einem Zeitraum von vierzig Jahren kein einziger NS-Kriegsverbrecher vor einem Gericht in Österreich verurteilt wurde und warf den österreichischen Behörden mangelnden politischen Willen vor.

Auf dem Weg ins Schubertkino laufen mir drei Freunde über den Weg. Sie sind auf dem Weg ins Gericht. Doch der Anlass ist ein erfreulicher. Die drei gründen eine Firma, „Hold my milk!“ wird sie heißen und sie entwickeln Konzepte für animierte Serien. Graz ist ja nicht nur Austragungsort der Diagonale, hier werden auch Filme gemacht. Und dass die drei Freunde Männer sind, eröffnet dann gleich noch die Assoziation Bierdeckel. Um all das, was Männer und Frauen jeweils zugeschrieben wird, dreht sich auch „L’Animale“. Der tolle Coming-of-Age-Spielfilm Katharina Mücksteins hat heute Österreichpremiere. Und im Schubertkino sitzt gerade Elisabeth Wabitsch nebem Michael Ostrowksi im Schubertkino und damit im FM4 Film Talk von der Diagonale. Österreichischer Film auf den Screens.

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