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And The Golden Choir

Sashberg

Der Multimusiker

Der Berliner Tobias Siebert ist Lichtgestalt und Schattenmann. Mit seinen Projekten And The Golden Choir und Klez.e hat er zwei der besten deutschen Pop Alben der Gegenwart veröffentlicht. Ein Studiobesuch.

Von Christian Lehner

Eine Death Metal Band hätte hier wohl Schwierigkeiten, auf Touren zu kommen. Viel zu behaglich eingerichtet ist das Studio von Tobias Siebert im Herzen Kreuzbergs. Von der Decke hängende Kronleuchter, auffällig plazierte Sekt- und Weinflaschen, sowie stilvolles Mobiliar würden Roomsharing-Agenten jubeln lassen. „Es ist wie ein großes Wohnzimmer“, so Siebert zur Begrüßung. „Wir sind 2006 gekommen und haben alles selbst gebaut, vom Klo bis zu den technischen Komponenten.“

Tobias Siebert sorgt hier für den richtigen Ton. Als Produzent am Mischpult für Bands wie Kettcar oder Me And My Drummer, an den Instrumenten und der Stimme in seiner Band Klez.e oder dem Projekt And The Golden Choir. Der Tonmann wirft seine Bandmaschinen nicht nur für Auftragsarbeiten an, sondern auch für Neuentdeckungen, die im Berliner Nachtleben aufgegabelt werden. So wie die Formation Danube, die gerade für die anstehende Tour im Vorprogramm von And The Golden Choir geprobt hat.

Siebert ist in Sachen Popmusik ein Spätzünder. In der DDR aufgewachsen fand er erst nach Jahren als Offsetdrucker zur Musik. „Als Kind imitierte ich höchstens Rockstars auf der alten Gitarre vom Dachboden und stellte mir vor, wie das so sein muss als Star.“

Vielleicht ist es ja der späten Berufung zu verdanken, dass Sieberts musikalische Ambitionen nicht im gewöhnlichen Bandformat enden. Sein Ideenreichtum sucht in dem Pop-Entwicklungsland, das Deutschland bis heute geblieben ist, seinesgleichen.

And The Golden Choir

Mit And The Golden Choir hat Siebert nach langen Jahren des Produzierens für andere und des gemeinsamen Werkens in Bands ein Ego-Ensemble entwickelt, das mit einigen ganz speziellen Einfällen glänzt.

Siebert spielt alle Instrumente selbst. Er singt auch alle Stimmen. Besonders daran ist, dass er dabei nicht wie ein Bedroom-Producer agiert, der ein paar Instrumente aufnimmt und via Sequencer im Laptop zusammenstoppelt. Siebert spielt vielmehr sämtliche Parts wie eine Live-Band ein. Das erfordert etwas Geduld. „Ich nehme jedes Instrument separat auf und zwar über die volle Länge des Songs. Das heißt, wenn ich etwa eine Glocke nur einmal kurz anspiele, lasse ich die Aufnahme trotzdem das ganze Stück über laufen. So bleibt der Raum hörbar wie bei einer echten Band. Passieren Fehler, bleiben sie am Band, das gehört zum Konzept.“

Tobias Siebert Tonstudio

Christian Lehner

Tobias Siebert in seinem Studio in Kreuzberg als And The Golden Choir

Spätestens jetzt sollte klar sein, dass sich Siebert mit And The Golden Choir ein kleines Nerdistan erschaffen hat. Das gilt auch für die Live-Shows. Die Begleitmusik kommt nicht aus der Konserve oder von einer Gruppe, sondern vom Plattenspieler. Siebert lässt von jedem Song eine Dubplate anfertigen. Im Mix dieser Stücke sind die Stimme und einzelne Instrumente herausgefiltert. Die fehlenden Parts singt und spielt er beim Live-Auftritt einfach wieder dazu.

Cover And The Golden Choir - Breaking With Habits

Caroline (Univeral Music)

„Breaking With Habits“ von And The Golden Choir ist auf Caroline/Universal Music erschienen

„Ich bin richtig süchtig geworden auf das Alleine sein, auf die langen einsamen Fahrten, auf das Nachdenken. Ich habe viel in mich reingehört und mich auch mit mir selbst unterhalten. Das ist schon etwas schizophren, aber ich genieße das sehr."

Im Aufnahmeraum des Studios stehen nicht nur Gitarren, Verstärker, Keyboards und ein Schlagzeug herum, sondern auch Instrumente wie aus dem Museum. Ein Hackbrett, eine Drehleier, arg von der Zeit mitgenommene Glocken. „Ich nehme zunächst den Schlagzeugpart auf. Dann höre ich schon das nächste Instrument. So schichte ich Spur um Spur. Ein Song ist relativ schnell fertig. Am nächsten Tag überprüfe ich das Resultat und es ist manchmal, als ob ich die Musik eines Fremden hören würde, weil ich mich an bestimmte Sachen gar nicht mehr erinnern kann.“

„Breaking With Habits“ heißt das zweite And The Golden Choir Album. Es ist eine betörend schöne Verschränkung von Folk, Indie Rock und moderneren Popspielarten wie Neo-R&B, wie man sie in dieser Qualität in Deutschland kaum zu hören bekommt. Die Songs halten perfekt die Balance zwischen Wehmut, Euphorie, Dringlichkeit und zarten Tönen. Alles ist gleichermaßen präsent, alles ist pure Musik, auch der Text, der nie in die Niederungen der Allgemeinplätze hinabsteigt. Andere würden für Popperlen wie „How To Conquer A Land“, „The Rain“ oder „Air Fire Water” killen.

Das Cover von „Breaking With Habits“ zeigt Tobias Siebert mit Rollkragenpullover, Bart, Ohrringen und geschminkten Augen. Es ist mehr als ein Flirt mit Glam Rock und Popklischees. Den Chor im Bandnamen konzipiert Siebert tatsächlich als Kollektiv. „Wir sind viele Stimmen. Mit dem Cover wollte ich meine weiblichen Seiten betonen. Ich glaube, dass in jedem von uns die anderen Geschlechter veranlagt sind. Ich will das ganz bewusst herausstellen. Insofern hat das wohl auch eine bestimmte politische Dimension“, so Siebert.

Klez.e - Mauerfall und Flüchtlingskrise

Vollends politisch ausgerichtet ist Sieberts derzeitiges Schaffen mit der Band Klez.e. Und das hat mit seiner Vergangenheit zu tun. Wenn wir heute an die DDR denken, sehen wir einen grauen Schleier aus dem schemenhaft Parteifunktionäre, Stasi-Agenten und Trabis auftauchen. Und eine Mauer, die Deutschland bis 1989 spaltete. Wenn Tobias Siebert an die DDR denkt, sieht er sich als Teenager, als Ostdeutscher der den Mauerfall miterlebt hatte.

„Der Osten war sehr grau. Dann kam der bunte Westen und dann das Schwarz. Ich habe mich schwarz angezogen, meine Haare schwarz gefärbt und bin so als 14-Jähriger mit toupierten Haaren in die Schule gegangen, weil ich nicht zufrieden war mit dem, was passiert ist. Wir hatten gedacht, es kommt die große Freiheit, aber der ganze Kaufwahn und Kapitalismusüberbau hat alles ausgebremst.“

Draußen vor den Mauern fängt es an sich zu bewegen / Da steht der Dummheit bester Freund / Er zeigt Flagge mit der Hand - Klez.e „Mauern“

Cover - Klez.e - Desintegration

staatsakt

„Desintegration“ von Klez.e ist auf staatsakt erschienen.

„Desintegration“ heißt das Album, auf dem Tobias Siebert die Vergangenheit mit der Gegenwart kurzschließt. Für das Projekt hat der Berliner seine alte Band Klez.e wiederbelebt, die jahrelang nichts von sich hören ließ. Die Flüchtlingsbewegung von 2015 und die Reaktionen darauf, der Aufstieg der AfD, all das hätte das Album quasi notwendig gemacht, so Siebert, der damit daran erinnern will, dass vor nicht allzulanger Zeit auch Deutsche Flüchtlinge waren.

Mit „Desintegration“ ist Klez.e etwas gelungen, das normalerweise der Literatur, dem Kino oder den besseren Fernseh- und Streamingserien vorbehalten ist. Mit der Darstellung der Vergangenheit werden Gegenwartsbezüge geschaffen. Es geht dabei weniger um historische Ereignisse an sich, sondern um den Zustand des Menschen, seine Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch um seine Irrungen und Anfälligkeiten. Der musikalische Bezugspunkt ist dabei offensichtlich. Mit „Desintegration“ verweisen Klez.e auf das Album Desintegration von The Cure, das 1989, also im Jahr des Mauerfalls, erschienen ist.

Tobias Siebert als Klez.e in seinem Tonstudio

Christian Lehner

Tobias Siebert in seinem Studio in Kreuzber als Klez.e

„Man kann diese Zyklen oktavenmäßig sehen. Es sind Ereignisse, die sich wiederholen, in tieferen und höheren Lagen, so wie auf dem Klavier. Man springt von 1989 zu 2015 und vielleicht wieder zurück in die 1940er Jahre“, sagt Siebert.

“Desintegration” ist ein Abgesang auf eine Republik, die sich verunsichern lässt und deshalb ihre Grundwerte in Frage stellt. Wir hören Vintage-Synthis, schwere Schlagzeug-Toms und vernebelten Gesangsspuren wie aus den Achtzigern und doch den Sound der Gegenwart. Ein Kniff, der in der Popmusik, seinesgleichen sucht.

Der Großteil der Songs von „Desintegration“ findet sich auch auf dem Klez.e Live-Album „November“, das im Vorjahr auf Staatsakt erschienen ist. Mit And The Golden Choir gastiert Tobias Siebert am 04. Mai im B72 in Wien.

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