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Ungarische Flaggen

FERENC ISZA / AFP

Ungarn und die Wahl

Acht Jahre unter der Regierung von Premierminister Viktor Orbán haben das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Am Sonntag stimmen die Ungarinnen und Ungarn über seinen autoritären Kurs ab.

Von Albert Farkas

Wenn man die Worte des ungarischen Premierministers Viktor Orbán im Parlamentswahlkampf für bare Münze nimmt, muss einem angst und bange werden. „Sie werden uns die Türe eintreten“, sagt er über Geflüchtete und Migranten in einer Rede zum ungarischen Nationalfeiertag am 15. März. „Wer die Einwanderung nicht an der Grenze aufhält, der verliert sein Land, und wird Stück für Stück verschlungen.“ Ungarn befinde sich in einem nationalen Überlebenskampf auf Leben und Tod.

Eine so martialische Sprache wird von keinem anderen Regierungsmitglied in Europa verwendet, nicht einmal von den meisten rechtspopulistischen Politikern. Manche Beobachter sehen in diesem Alarmismus eine reine Wahlkampf-Show, um die eigene Wählerinnenschaft zu mobilisieren. Aber die Sprache ist Ausdruck einer Weltanschauung, und diese Weltanschauung schlägt sich in konkreten politischen Maßnahmen nieder, bei allen drei Säulen der Staatsgewalt.

Wahlplakat in Ungarn

Albert Farkas

Links ein Wahlplakat mit dem Konterfei des regierenden Fidesz-Premierministers Viktor Orbán. Daneben ein Plakat mit der Graffito-Aufschrift „Fidesz-Lügner, Räuberbande.“

Der Fall Ahmed Hamed

Am 15. März ist ebenfalls das Urteil gegen den Vertriebenen Ahmed Hamed bestätigt worden. Er muss für seine Rolle bei einer unübersichtlichen Auseinandersetzung an der ungarisch-serbischen Grenze zwischen Geflüchteten und der Polizei im September 2015 für sieben Jahre ins Gefängnis. Zu denken gibt dabei auch die Tat, für die er verurteilt wurde: Hamed wird vor allem zur Last gelegt, Polizisten mit Gewalt gedroht zu haben. Drohungen zählen in Ungarn schon als Terrorismus.

Zutritt verboten

Heute werden die meisten Geflüchteten durch den 155km langen Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn von der Einreise abgehalten. Ungarn hat die maximale Anzahl an Asylwerbern, die ins Land gelassen werden, auf unter tausend beschränkt. 450 von ihnen befinden sich zur Zeit an der Grenze in zwei geschlossenen Containerlagern. Das UNHCR und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben die Praxis, Flüchtlinge auf unbestimmte Zeit festzuhalten, als ungesetzlich, völkerrechtswidrig und illegal bezeichnet. Über die Zustände in diesen Lagern soll so wenig wie möglich nach außen dringen. Im Sommer 2017 hat die Regierung sämtlichen NGOs den Zutritt verboten.

Das FM4 Homebase - Special zur Ungarn-Wahl von Lukas Tagwerker und Albert Farkas ist im FM4-Player zu hören.

Im September hat der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi diesen Schritt bemängelt, und Zugangsmöglichkeiten für unabhängige Beobachterinnen und Rechtsberater eingemahnt. Stattdessen plant die Fidesz-Regierung, einen Schritt weiter zu gehen: Neueste Gesetzesvorlagen würden aus sämtlichen Ungarn umfassenden Grenzgebieten in einem Umkreis von acht Kilometern No-Go-Zonen für Flüchtlingshelfer machen. Das sind Vorhaben, die einen großen Einschnitt in die Bewegungsfreiheit auch ungarischer Bürgerinnen und Bürger bedeuten würden. Aber wer sein Land im Kriegszustand wähnt, ist vielleicht eher gewillt, unterschiedliche Rechtssysteme für verschiedene Menschengruppen, und auch Grundrechtseinschränkungen für sich selbst, hinzunehmen.

Wahlplakate aus Ungarn

Albert Farkas

Oben: Eine fotografische Intervention vor dem Budapester Bahnhof Keleti - 1989 schneiden der ungarische Regierungschef Gyula Horn und der österreichische Außenminister Alois Mock den zum Eisernen Vorhang gehörenden Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich durch. Unten: Ein Fidesz-Wahlplakat warnt vor dem Abreißen des eben neu errichteten Grenzzauns zwischen Ungarn und Serbien - Bestrebungen, die den Spitzen der Oppositionsparteien und dem Milliardär George Soros unterstellt werden.

Demokratie à la Orbán

Wer sich nicht veranlasst sieht, sich vor Geflüchteten und Migrantinnen zu fürchten, hat seinerseits Unbehagen an der wachsenden Macht der Regierung und dem autoritären Regime, das in den letzten acht Jahren unter der Fidesz-Partei herangewachsen ist. Ungarn hat sich in massivem Ausmaß von EU-Normen in Sachen Demokratie-, Medien- und eben Asylpolitik entfernt. So hat die Fidesz-Partei begonnen, sie begünstigende Mechanismen ins Wahlsystem festzuschreiben. Begonnen hat dieser Prozess der eigenen Bevorteilung mit der Verabschiedung der neuen ungarischen Verfassung 2011 und über tausend Begleitgesetzen, darunter ein neues Wahlgesetz. So hat Fidesz unter anderem die Grenzen der Wahlkreise neu ziehen lassen. Jene Wahlkreise, in denen traditionell viele Wähler der oppositionellen Sozialdemokraten leben, wurden vergrößert. Laut Berechnungen des Budapester Think Tanks Political Capital bedeutet das, dass Fidesz 6% weniger an Stimmen benötigt, als die Opposition, um eine absolute Mandatsmehrheit zu erreichen.

Neo-Ungarn wählen Fidesz

Außerdem profitiert die Fidesz-Partei davon, dass sie Wahlmittel auf unterschiedliche Wählergruppen zugeschnitten hat. Diese Strategie der Wählerselektion kommt darin zum Ausdruck, wie die Regierung die Option der Briefwahl implementiert. Per Brief abstimmen darf nur, wer keinen Wohnsitz in Ungarn hat. Diese Unterscheidung ist international unüblich. Das Kriterium des fehlenden Wohnsitzes trifft dabei vor allem auf ein ganz bestimmtes Wählersegment zu, nämlich Angehörige der ungarischen Bevölkerungsgruppen in den Nachbarländern Serbien, Rumänien und Slowakei. Bis 2011 waren die meisten dieser insgesamt 2,5 Millionen Menschen noch ausländische Staatsbürger ohne Stimmrecht bei ungarischen Wahlen. Dann wurde ihnen mit der im selben Jahr beschlossenen Möglichkeit der „Vereinfachten Einbürgerung“ von der ungarischen Regierung das Angebot gemacht, die ungarische Staatsbürgerschaft im Eilverfahren verliehen zu bekommen. Damit wurde der Wählerpool schlagartig mit Hunderttausenden mit tendenziell groß-ungarisch-nationalistischen Überzeugungen angereichert. Diese Neo-Ungarn honorierten ihre Einbürgerung in der Folge mit einer Rekordzustimmung für die Orbán-Regierung. Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2014 gingen mehr als 95% der Briefwahlstimmen an Fidesz.

Ein konträres Wählersegment sind diejenigen, die aus Ungarn ausgewandert sind. Die Mitglieder dieser Gruppe verfügen in der Regel über eine höhere Bildung und sind weltoffener als der Durchschnitt, und sind tendenziell Anhänger der Opposition. Solange sie ihren Wohnsitz in Ungarn nicht aufgeben, bleibt ihnen die Briefwahl verwehrt. Während die Fidesz-freundlichen Neo-Ungarn in Rumänien oder der Slowakei also bequem per Post abstimmen können, müssen ausgewanderte Ungarn mitunter mehrere Stunden Autofahrt oder Flug in Kauf nehmen, um pünktlich zum Wahltag beim nächstgelegenen ungarischen Konsulat ihr Kreuz machen zu können.

Zudem hat der von einem Fidesz-Vertrauensmann geführte Rechnungshof während der laufenden Vorwahlperiode begonnen, ungarische Oppositionsparteien ohne Angabe von nachvollziehbaren Gründen mit Nachzahlungen in Höhe mehrerer tausend bis Millionen Euro zu belegen. Die Entscheidungen des ungarischen Gerichtshofes haben von Haus aus rechtskräftigen Charakter, und können nicht bei einer höheren gerichtlichen Instanz angefochten werden.

Selbst, falls Fidesz mittelfristig abgewählt werden sollte, hat die Partei keinen allzu großen realen Machtverlust zu befürchten. Dafür hat sie Vorkehrungen getroffen, indem sie viele Gesetzesbereiche in den Verfassungsrang erhoben hat, unter anderem das Steuerrecht. Die simpelsten budgetpolitischen Maßnahmen sind daher nur mit einer 2/3 - Mehrheit, und daher nur mit Zustimmung der Partei möglich. Das gilt auch für die Ernennungen zu den wichtigsten Behördenposten.

Berichterstattung aus einer Hand

All diese Faktoren haben dazu beigetragen, das Risiko bei Wahlgängen für Orbán zu minimieren. Zu einer breiteren Öffentlichkeit zugänglichen, kritischen Beleuchtung und Besprechung der Wahlreformen kam es kaum. Denn parallel zu diesen Umwälzungen bemächtigte sich die Regierung der am weitesten verbreiteten Medien in dem Land. Kurz nach dem Fidesz-Wahlsieg im Jahr 2010 ließ Orbán die Führung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der ungarischen Nachrichtenagentur austauschen. An die 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden entlassen. Das war ein Drittel der Gesamtbelegschaft. Die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiokanäle, wie auch sämtliche private heimische Medien, wurden außerdem unter die Beobachtung einer neu geschaffenen Medienaufsichtsbehörde gestellt. Diese kann Bußgelder verhängen, wenn sie die Berichterstattung einzelner Medien als nicht ausgewogen empfindet. Die Fidesz-nahe Leiterin der Medienaufsichtsbehörde ist für neun Jahre bestellt.

In einer zweiten Phase ab dem Jahr 2014 begann eine beispiellose Übernahmewelle privater regierungskritischer Medien. Fast ein Dutzend Sender und Formate, darunter so auflagenstarke, angesehene und identitätsstiftende Zeitungen wie die legendäre Népszabadság („Volksfreiheit“) wurden von Fidesz-treuen Oligarchen (im Falle der Népszabadság der österreichische Unternehmer Heinrich Pecina) aufgekauft und auf Regierungslinie gebracht, oder stillgelegt. Einige andere haben sich dem direkten Zugriff entziehen können, indem sie sich zur Selbstzensur verpflichten und keine innenpolitischen Inhalte bringen.

Durch die Beseitigung der größten unabhängigen Medien hat die Regierung eine in manchen Teilen des Landes fast undurchdringliche mediale Echokammer errichtet. Die Berichterstattung der regierungsnahen Zeitungen und Stationen ist gleichgeschaltet. Sie transportieren und verstärken die von Fidesz lancierten Inhalte. Während der letzten drei Jahre bestehen diese Inhalte hauptsächlich aus Meldungen über vermeintlich von Asylwerbern oder Migranten verübte Straftaten. Eine Handvoll regierungskritischer Publikationen gibt es noch. Sie werden jedoch mit Hilfe von Werbe-Boykotts gegängelt. Ungarn ist in den acht Jahren der Fidesz-Regierung im weltweiten Pressefreiheits-Ranking von Reporter Ohne Grenzen von Platz 23 auf Platz 71 gefallen.

Das Soros-Phantom

Wer, wie Premierminister Orbán im Ungarn des Jahres 2018, keine effektive, massenwirksame Opposition in seinem Land antrifft, muss sich eine suchen. Gefunden hat er sie in den vom ungarisch-amerikanischen Milliardär und Großinvestor George Soros unterstützten NGOs im Land. George Soros fördert weltweit diverse Organisationen. In Ungarn hat die von ihm gegründete Open Society Foundation seit 1984 mehr als 60 verschiedene Gruppen und Einrichtungen mit über 400 Millionen Dollar gesponsert. Soros, der sein Vermögen hauptsächlich mittels Finanzspekulation erworben hat, sieht sich selbst als Philanthrop, der zur Schaffung lebendiger Demokratien und toleranter Gesellschaften fördern will.

Auch jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisationen und investigativen Medien, mit denen wir gesprochen haben, werden zum Teil von der Open Society Foundation finanziert.

Auch für manche Nicht-Fidesz-Wähler ist das keine glaubwürdige Erklärung. Sie sehen Soros als Lobbyisten, und haben Bedenken bezüglich seines Engagements. Das geht von Mutmaßungen über den Versuch der politischen Einflussnahme bis hin zu Verschwörungstheorien aus dem rechtsextremen Milieu, die besagen, Soros hätte vertriebene Menschen dazu angestiftet, 2015 nach Europa zu flüchten. Manche der von Fidesz-Politikern vorgetragenen Anschuldigungen gegen Soros beinhalten antisemitische Codes.

Die Aussichten für NGOs

Nach der Wahl plant die Fidesz-Partei eine 20%ige Strafsteuer über sämtliche ausländisch-finanzierte NGOs zu verhängen. Jene, die sie als “Nationales Sicherheitsrisiko” einstuft, will sie verbieten. Inländisch finanzierte NGOs, die nicht von der Regierung vereinnahmt sind, und die eine ähnliche Grundrechte verteidigende Arbeit leisten, gibt es nicht.

Ein ungarisches Wahlplakat

Albert Farkas

Der Führer des sozialdemokratischen Bündnisses hat einen besonders feierlichen Familiennamen. Deswegen ist in Ungarn zur Zeit an jeder dritten Ecke Weihnachten.

Was macht einen Ungarn zum Ungarn?

Ein Ungar zu sein, bedeutet, Unrecht angetan zu bekommen, und zu leiden. Das ist eine der ersten Lektionen, die man als ungarisch-stämmiger Mensch wie ich vermittelt bekommt. Das einzige Mittel damit zurecht zu kommen, ist, so oft und so leidenschaftlich darüber zu klagen. Die Traumata der Vergangenheit beherrschen die Vorstellungskraft vieler Menschen in der Gegenwart so stark, wie man das in kaum einem anderen Land Europas für möglich halten würde (über die aggressive Magyarisierungspolitik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Laufe derer Millionen kulturell slawische und rumänische Menschen zwangsassimiliert wurden, spricht seltsamerweise niemand).

Die verlorene Schlacht von Mohács gegen die Osmanen 1526, der gescheiterte Unabhängigkeitskampf gegen die Habsburger 1848, der niedergeschlagene Aufstand gegen die sowjetische Besatzung 1956. Nirgendwo in Europa sind irredentistische Bestrebungen ein so lebendiger und respektierter Faktor im politischen Leben. Es ist nicht anzunehmen, dass in Österreich 2019 tausende Menschen auf die Straße gehen werden, um des vor 100 Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfolgten Friedens von St.-Germain, und der damit verbundenen österreichischen Gebietsverluste, zu gedenken. Aber in Ungarn werden sie da sein, um den für sie zur gleichen Zeit ausverhandelten Friedensvertrag von Trianon zu betrauern, vermutlich bekleidet in den beliebten, mit der großungarischen Landkarte verzierten Modeartikeln.

Gesprochen haben wir dafür mit Vertreterinnen der Ungarischen Gesellschaft für Freiheitsrechte, des Helsinki-Komitees, unabhängiger Nachrichtenplattformen wie Direkt36.hu und Új Népszabadság, der muslimischen Glaubensgemeinschaft und des unabhängigen Schülerinnenparlaments.

Budapest, Ungarn und die EU

Die Voraussetzungen waren gegeben, dass die vor sich hin gärenden Ressentiments, gepaart mit der grundsätzlichen sprachlichen, psychisch-topographischen und von der 40jährigen sowjetischen Herrschaft verursachten politischen Isolation, auch langfristig zu einer ethnozentristischen Abschottungspolitik führen würden.

Der EU-Beitritt hätte eine Möglichkeit sein können, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, aber die bedingungslose kapitalistische Durchdringung und Gefügigmachung hat außer zu einem Hauch kosmopolitischen Flairs in Budapest (bemerkbar unter anderem an den unzähligen, für einzelne Wochenenden einfliegenden Gesandtschaften an Junggesellenabschiedsrunden) nur zu einer noch stärkeren nationalen Rückbesinnung in allen anderen Landesteilen geführt. Der Löwenanteil der EU-Fördergelder landet bei Orbán-treuen Oligarchen. Und so ist für einen großen Teil der Menschen bei der Parlamentswahl 2018 der selbe Zustand lebensbestimmend, der sie schon vor dem EU-Beitritt, und der gesamten Zeit seither, betroffen hat: Die schon tausendmal weggehoffte, banale, existenzbedrohende, bittere - Armut.

Es wird interessant zu sehen sein, ob sich die EU nach dem erwarteten Erfolg der Regierung Orbán, und der Verschärfung ihres autoritären Kurses, zu mehr als nur Palliativmaßnahmen durchringen kann.

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