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Szenen aus dem Film Pio

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„Pio“ ist ein heftige Begegnung

Ein Autodiebstahl als Glücksfall: Regisseur Jonas Carpignano zeigt mit seinem neuen Spielfilm „Pio“ das Leben eines Roma-Buben in Süditalien.

Von Maria Motter

Als Jonas Carpignano in Süditalien dreht, wird das Produktionsauto gestohlen. Ein Diebstahl, der sich als Glücksfall herausstellen wird. Wenn in der Hafenstadt Gioia Tauro, die durch ihre Müll-Mafia bekannt ist, ein Auto verschwindet, dann „geht man zu den Zigeunern“, erzählt der 1984 geborene Carpignano. Den Fiat Panda versucht er zurückzukaufen, denn das gesamte Filmequipment war auch noch darin. „Wir mussten drei Tage auf unser Auto warten, weil Pios Großvater kurz zuvor gestorben war. Man weigerte sich, die Höhe des Lösegelds vor der Beerdigung auszuhandeln.“ Pio, das ist die Hauptfigur und der Titelheld von Carpignanos neuem und zweitem Langspielfilm, dessen Handlung sehr an das Leben der Menschen angelehnt ist, die Carpignano bei der Autorückholaktion kennengelernt hat. „Pio“ - Originaltitel „A Ciambra“ - hatte bei den Filmfestspielen von Cannes 2017 Premiere.

Pio Amato hat ein Gesicht, in das man lange schauen kann, und er spielt Pio, der 14 Jahre alt ist, mit seiner erweiterten Roma-Familie in einem heruntergekommenen Haus lebt, der raucht und sich abends ein Bier kauft, wenn er unterwegs ist, und dessen großer, erwachsener Bruder nichts mit ihm anzufangen weiß. Das Einzige, das er ihm zeigt, ist, wie er Autos öffnen kann und die Zündung kurzschließt. Kleinkinder kugeln herum, ziehen schon mal an einer Zigarette, die Verwandtschaftsverhältnisse sind unübersichtlich. Der Schulbesuch ist eine Behauptung und Selbstlüge Pios.

Szenen aus dem Film Pio

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Hinter seinem Rücken verfolgt Pio den Bruder, erfährt von dessen kriminellen Machenschaften und kurz darauf verhaftet die Polizei alle erwachsenen Männer außer dem alten Großvater Pios. Bereits die ersten Szenen bestätigen alle Klischees und Stereotype, die es über Roma gibt. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Film mitreißend ist.

„Wir gegen die Welt“ als Weltanschauung

„Denk daran, es sind wir gegen die Welt“, sagt der Großvater einmal zu Pio, als er sich in einem der wenigen ruhigen Momente des Films mit dem Buben wo allein findet. Und der Großvater erinnert sich kurz an einstige Freiheit, das Herumziehen und nirgendwo festgefahren sein. Die Roma-Familie, die sich als Outlaws der Gesellschaft auch empfindet, blickt mit rassistischen Kommentaren auf die afrikanischen Geflüchteten herab, die wie sie an den Rändern der Stadt hausen. Das hält Pio nicht davon ab, sich mit einem jungen Mann aus Burkino Faso anzufreunden: Ayiva ist der einzige Mensch weit und breit, der den Buben noch zu schützen versucht. Der Afrikaner ist die moralische Instanz. Die Möglichkeit von Freundschaft glimmert auf.

Szenen aus dem Film Pio

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Viele Einstellungen sind doppelt düster, inhaltlich wie optisch. Elektrizität ist rar. Die AfrikanerInnen leben unter Zelten aus Plastikplanen und machen Lagerfeuer, um die Nächte zu erhellen. Pio muss das Stromnetz immer wieder illegal anzapfen. Es ist einer der wenigen ausgesprochenen Befehle, die er von seiner Mutter erhält. Erschütternd, wie sich die Position der Frau offenbart. Pio ist noch mehr Kind als Jugendlicher. Doch die Befindlichkeiten und Bedürfnisse des Kindes scheinen nicht von Interesse. Unausgesprochen wird von ihm erwartet, jetzt, da die Männer abwesend sind, für das Familienauskommen zu sorgen. Schneller, als er anfangen könnte, zu überlegen, wie er das bewerkstelligen sollte, erhält der Bub Anweisungen und Aufträge Fremder. Doch Pios Familie sind die Leute bestens bekannt. Gewalt, angedroht und ausgeübt, ist Alltag. Nicht einmal Liebesbekundungen kommen in Pios Familie ohne sprachliche Gewalt aus. Was für ein mieses Umfeld, denkt man, doch Wertungen und moralische Äußerungen lässt der Regisseur außen vor.

Szenen aus dem Film Pio

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Jonas Carpignano hatte nicht vor, sich mit seinem Spielfilm größeren soziologischen Faktoren zu widmen. Die Stellung der Roma in der italienischen Gesellschaft darzulegen, sei schwierig. Gedreht wurde „Pio“ in Kalabrien mit Laien. Auch die Hauptdarsteller waren einst Laiendarsteller, aber bereits in Carpignanos Regiedebüt „Mediterranea“ dabei. Pio Amato kann schauen, dass man den Eindruck hat, man hört ihn denken. Die Erzählung geht mit ihm mit, in unbekannte Situationen und schwierige Entscheidungen. Sehr nah ist die Kamera dem Buben. „Pio“ ist ein außergewöhnlicher Film, denn wie oft missraten Kindheitserzählungen zu verklärendem Kitsch. Der in New York und Rom aufgewachsene Jonas Carpignano taucht tief ein in eine wohl zu gleichen Teilen fiktionale wie reale Lebensgeschichte, die Martin Scorsese produziert hat.

Doch wie toll es ist, einen berühmten Produzenten zu haben, hat Jonas Carpignano erst spät realisiert. Wenn man Filme in Gioia Tauro drehe, dann fühle sich alles, was außerhalb davon passiert, äußerst abstrakt an, verglichen mit dem, was sich dort abspiele: „Es ist ein wilder, unbändiger Ort, wo alles möglich ist und auch öfters vorkommt“. Glaubt man sofort, wenn man „Pio“ gesehen hat.

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