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Mann mit bulgarischer Fahne vor dem Sitz der Regierung

NIKOLAY DOYCHINOV / AFP

mit akzent

Nationale Verpflichtung

Der Mann, den ich seit 15 Minuten kenne, nennt mich einen Verräter, weil ich in Österreich lebe. So könne ich meine „nationale Verpflichtung“ unmöglich erfüllen.

Von Todor Ovtcharov

“Ich kann euch Bulgaren nicht verstehen! Ihr kommt hier nach Österreich, anstatt für das Wohl eures Landes zu arbeiten! Du hast eine nationale Verpflichtung!” Jörg wird immer hitziger und seine Brille leuchtet in die Nachmittagssonne.

Ich kenne Jörg seit 15 Minuten. Er ist ein Freund von einem Freund von einem Freund. Wir sitzen nebeneinander an einem Tisch und schon predigt er über meine nationale Verpflichtung. In diesen 15 Minuten habe ich mitbekommen, dass er aus Kärnten kommt, ein Jurist ist und eine große österreichische Firma in Bulgarien vertreten hat. Diese Firma versucht, die Energieverteilung in Südbulgarien zu monopolisieren.

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Über mich weiß Jörg gar nichts, er fragt mich auch nichts. Er glaubt, dass er alles über Bulgarien und die Bulgaren weiß, weil er schon mal dort gewesen ist. Jörg kenne sogar Vertreter der politischen und wirtschaftlichen “Elite”. Über die habe ich keine besonders hohe Meinung und will nicht mit ihnen gleichgesetzt werden, versuche ich ihm zu erklären.

Doch Jörg will, dass ich sofort wieder nach Bulgarien ziehe, um meine “nationale Verpflichtung” zu erfüllen. Er kann nicht nachvollziehen, dass ich meine “nationale Verpflichtung” erfülle, wenn ich nicht in Bulgarien lebe. Er zum Beispiel habe sie erfüllt, indem er seiner Firma dazu verholfen hat, fette Gewinne in Bulgarien zu machen: Dort sind Steuern und Löhne niedrig. Ich hingegen sei ein Verräter, weil ich in Österreich lebe.

Ich versuche zu scherzen, dass ich auch ein Investor sei: Die im Ausland lebenden Bulgaren bringen jährlich mehr als 500 Millionen Euro in das Land, viel mehr als seine Firma investiert hat. Außerdem investiere ich in Österreich, indem ich da meine Steuern zahle. Ich scherze weiter: patschert, wie ich bin, bleibe ich doch besser da, sonst hindere ich womöglich andere, ihre „nationale Verpflichtung“ zu erfüllen.

Jörg hat vielleicht keinen Sinn für Humor, er versucht weiter mit mir zu streiten. Ich sage nichts mehr und versuche, mich woanders hinzusetzen. Ich will ihm ein Bier zahlen, doch er ist stolz und zahlt es selber. Auch so versteht er seine nationale Verpflichtung – mit dem Geld, das er in Bulgarien verdient hat, sein Bier in Österreich zu bezahlen. Ich gehe weg und frage mich, warum ich überhaupt so ein Gespräch mit jemandem führe, den ich nur 15 Minuten kenne. Wenigstens war das Bier gut.

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