FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Charlize Theron

thimfilm

For whom the belly tolls

Statt pastellfarbener Babyfreude und Hormonrausch bebildert Jason Reitman in „Tully“ das Muttersein mit Müdigkeit und der Andeutung postnataler Depression. Deprimierendes Sozialdrama ist „Tully“ trotzdem nicht, Charlize Theron brilliert in dem eigentümlichen Film als müde Mutter Marlo Moreau.

Von Pia Reiser

Mit fünf schwangeren Frauen im Gepäck ist Charlize Theron als Imperator Furiosa in „Mad Max: Jury Road“ durch die Wüste gebrettert auf der Flucht vor einem wahnsinnigen Tyrann. In „Tully“ spielt Theron die 40-jährige Marlo, die mit ihrem dritten Kind im neunten Monat schwanger ist. Und so im Direktvergleich hat Imperator Furiosa einen entspannteren Alltag und eine kürzere To-Do-Liste als Marlo Moreau. Einarmigkeit, Wüste und Wahnsinniger hin oder her.

Marlo ist erschöpft, man sieht es ihr von Kopf bis Fuß an, von den Augenringen bis zum müden Gang. Müde von der (ungeplanten) Schwangerschaft, von den beiden Kindern, vom perfekten Leben ihres Bruders (Mark Duplass). Abends sitzt sie vor dem Fernseher und cremt sich ihren Bauch ein. Ein Bild, das einem jetzt zunächst nicht sonderlich revolutionär vorkommt, doch die authentische Abbildung einer Schwangerschaft im Film hat Seltenheitswert.

Charlize Theron in "Tully"

Thimfilm

Schwangerschaft als großes No-Go im Kino

Der Hays Code, die Production Code Administration, Hollywoods mächtige, moralische Instanz wacht von den 1930er bis in die 1950er Jahre streng darüber, was auf der Leinwand vor sich ging. Junge, verheiratete Frauen sollten von Filmen in Sachen Schwangerschaft, Geburt und Muttersein nicht verunsichert werden. Die körperlichen Veränderungen (von den möglichen psychischen ganz zu schweigen) durften nicht gezeigt werden.

Wenn eine Frau in einem Film aus dieser Zeit schwanger ist (wobei das Wort „schwanger“ auch nicht verwendet wurde, man war eher „guter Hoffnung“), dann gab es trotzdem keinen Babybauch. Ein Baby war etwas, worauf man sich uneingeschränkt freute, körperlich bleibt alles beim Alten und die Geburt ist nicht schmerzhaft, so verknappt könnte man den Zugang des Hays Code bezeichnen.

Erst in den 1960er Jahren ändert sich das langsam, durch „Cat on a hot tin roof“ stapft die im sechsten Monat schwangere Mae und Roman Polanski legt mit „Rosemary’s Baby“ den Grundstein für die Schwangerschaft als Inspiration fürs Horror-Genre. Im Mantel des Science Fiction erzählt „Alien“ ebenfalls von Schwangerschaft und Geburt. Und „Fargo“ bleibt weiterhin einer der wenigen Filme, der eine schwangere Hauptfigur hat, ohne dass die Schwangerschaft Thema des Films ist. In den 00er Jahren folgen zahlreiche Filme, die Schwangerschaften thematisieren, von „Away We Go“ zu „Knocked Up“ und dem Ratgeber in Filmform „What to expect when you’re expecting“. Da deutet immerhin Elizabeth Banks Figur schon an, dass nicht alles rosig und wonnig ist „Pregnancy sucks. Making a human being is really hard. I have no control over my body or my emotions.“

Charlize Theron in "Tully"

Thimfilm

Nach der Geburt wartet nicht nur rosiges Babyglück

Wie Schwangerschaft und Elternschaft in Bobo-Zirkeln aussieht, das hat Marie Kreutzer in „Was hat uns bloß so ruiniert“ festgehalten

Nun, der großartige Film „Tully“ geht ein bisschen weiter und deutet nicht nur an. Zunächst einmal hat Charlize Theron für die Rolle der Marlo an die 23 Kilo zugenommen. Der Film bringt ein realistisches Körperbild einer schwangeren Frau und einer Frau in den Monaten nach der Geburt auf die Leinwand, doch die noch bemerkenswertere Hollywood-Pionierleistung ist die Auseinandersetzung mit dem Muttersein (ich schreib hier absichtlich nicht Elternsein, da „Tully“ die Vaterfigur auf ein Minimum reduziert).

Eine exzellent komponierte Montage etabliert den nächtlichen Alltag mit einem Neugeborenen. Babygeschrei, volle Windeln, wunde Brustwarzen vom Stillen, unendliche Müdigkeit. Diese tiefsitzende Müdigkeit lässt Marlo immer wieder entrückt wirken, manchmal hört sie nicht wirklich zu, wenn ihr Mann mit ihr spricht, manchmal wirkt es, als würde sie mit offenen Augen schlafen. „Tully“ formuliert aus, dass nach der Geburt nicht nur rosiges Babyglück, sondern auch postnatale Depressionen möglich sind.

Charlize Theron in "Tully"

Thimfilm

Es gibt ein Außerhalb der Mutterrolle

Als Marlos Rettung taucht die titelgebende Tully (Mackenzie Davis) als sogenannte Nacht-Nanny auf. Eine Brooklyn Mary Poppins - ohne das ganze Gesinge. Mit Latzhosen, kurzen Tops und dieser ganz eigenen Art zu sprechen, wie nur Drehbuchautorin Diablo Cody wortschnitzen kann. Vor 11 Jahren hat Cody gemeinsam mit Regisseur Jason Reitman Ellen Page als schwangeren Teenager in „Juno“ schwadronieren lassen. In „Tully“ ist die schwangere Frau kein Teenager mehr, doch Codys eigener Tonfall kennt keine Altersgrenzen. Im Vergleich zu „Juno“ ist „Tully“ gedämpfter, was sprachliche Originalität angeht, aber immer noch naseweis, verschroben, popkulturell aufgeladen. You’re like a book of fun facts for unpopular 4th graders, so Marlo zu Tully. Und Your twenties are great, but then your thirties come around the corner like a garbage truck at 5:00 a.m.

Mit Hilfe der jungen Frau, die energiegeladen nun jede Nacht kommt und sich um Baby Mia kümmert, blüht Marlo auf. Sie hat nicht nur eine Nanny, sondern eine Vertraute gefunden und in den Gesprächen mit Tully taucht die Marlo wieder auf, die sie war bevor sie Mutter wurde. Für Diablo Cody ist die Frage der Identität zentral für „Tully“. Wie sich Mutterwerden als Verlust der eigenen Identität anfühlen kann.

Charlize Theron in "Tully"

Thimfilm

„Tully“ läuft ab 31. Mai 2018 in den österreichischen Kinos

Das Themenbündel, das „Tully“ anpackt, könnte auch in einem Sozialdrama abgehandelt werden, doch es ist umso interessanter, weil Regisseur Jason Reitman und Diablo Cody einen streckenweise amüsanten Film gemacht haben. Da ist Komik in Codys Sprache und in Therons Spiel, da ist aber auch eine umwerfende Wahrhaftigkeit, wenn Marlo des Nachts mit der Milchpumpe in Jogginghose im Wohnzimmer sitzt, dessen Boden mit Spielzeug bedeckt ist und das nur vom Flackern des Fernsehers erhellt wird. Die madmax’sche Fury Road war ein Spaziergang dagegen.

mehr Pia Reiser:

Aktuell: