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Kanye West performing at the Samsung Galaxy Note II Launch Event

CC BY 2.0 / flickr / kennyysun

I hate being bipolar, it’s awesome

7 Songs in knapp 25 Minuten Spielzeit. Kanye West hat mit „Ye“ vor wenigen Tagen sein neues Album veröffentlicht, dessen Entstehung 4 Wochen gedauert hat und das bis zum Schluss immer wieder verworfen und neu arrangiert wurde. Ein Werk, dessen Grundzutaten Egomanie, Narzissmus, eine bipolare Störung, Selbsterkenntnis und künstlerisches Talent sind.

Von Alex „DJ Phekt“ Hertel

Manchmal fühlt sich die Welt 2018 an, als würde man in einer besonders absurden Folge von „The Simpsons“ leben. Etwa, wenn Kanye West oder seine Frau Kim Kardashian stolz neben Donald Trump posieren. Oder wenn dieser vor versammelter TMZ-Redaktion ernsthaft „slavery was a choice“ sagt. Ganz genau wissend, dass er damit jene Aufmerksamkeit und negativen Reaktionen bekommt, die er so dringend braucht, um sich wahrgenommen zu fühlen. FM4-Kollege Andreas Ederer bezeichnet ihn treffend als „den menschgewordenen PR-Multiplikator“. Ein Mann, der in seiner Celebrity-Blase ganz offensichtlich den Bezug zur Lebensrealität der meisten Menschen verloren hat. Oder doch nicht?

Kanye West / "Ye" Cover

Jamie McCarthy

Die ganze Welt hat 2016 den öffentlichen „meltdown“ von Hip Hops bekanntestem Egozentriker Kanye West beobachten können. Damals wurde er aufgrund von „Erschöpfung“ ins Krankenhaus eingeliefert und sein psychischer Zusammenbruch quasi in Echtzeit auf unsere Screens gestreamt. Die in Amerika in solchen Situationen schnell verschriebenen Opiate waren rückblickend laut Kanye West für die ein oder andere dumme, unreflektierte Aussage verantwortlich. Sein Geist vernebelt von der US-Pharmaindustrie.

Das Klischee des Künstlers, der zwischen Genie & Wahnsinn pendelt, wurde einmal mehr bedient. Doch wo verläuft die Grenze zwischen „Wahnsinn“ und psychischer Erkrankung? Welchen Einfluss haben von Ärzten verschriebene Medikamente (Schmerzmittel) wie Fentanyl auf den Geisteszustand von Menschen? Prince und Michael Jackson können darüber nicht mehr sprechen, Kanye West - der die Beiden als große Idole nennt - schon.

I can feel the spirits all around me
I think Prince and Mike was tryna warn me
They know I got demons all on me
Devil been tryna make an army
They been strategizin’ to harm me
They don’t know they dealin’ with a zombie

(Kanye West - „Yikes“)

I thought about killing you

Coverbild dieser Story: CC BY 2.0

Kanye West eröffnet sein neues Album, im Background-Chor unterstützt von Francis and the lights, mit einer sehr persönlichen Nummmer, in der er über seine inneren Dämonen, Suizidgedanken und psychischen Probleme spricht, während der Pitch Shift-Effekt seine Stimme atmosphärisch in unterschiedliche Tonlagen verändert. In der Hälfte des Songs setzt der Beat ein, das Instrumental ändert sich und basiert dann auf einem Sample des Songs „Fr3sh“ von Kareem Lotfy, erschienen auf dem Berliner Label PAN Records. Angeblich hat Kanye West den Song während eines geheimen Berlin-Aufenthalts vor einigen Monaten entdeckt.

Today, I seriously thought about killing you
I contemplated, premeditated murder
And I think about killing myself
And I love myself more than I love you, so…

(Kanye West - „I thought about killing you“)

Song Nummer 2 auf „Ye“ heißt „Yikes“. Darin thematisiert er ein weiteres Mal seine zeitweise Opiat-Abhängigkeit und bipolare Störung, die er allerdings nicht als Behinderung sondern als „Superpower“ begreift. Problematisch ist an dem Song ein geschmackloser „MeToo“-Vergleich, der sich auf den ehemaligen Def Jam-Labelboss Russell Simmons bezieht.

Yeezy, Yeezy trollin’ OD huh?
Turn TMZ to Smack DVD, huh?
Russell Simmons wanna pray for me too
I’ma pray for him ‚cause he got #MeToo’d
Thinkin‘ what if that happened to me too
Then I’m on E! News

(Kanye West - „Yikes“)

In guten wie in schlechten Zeiten

Dem Themenkomplex Beziehung, Treue, Verlangen und Begehren widmet sich Kanye West in den Songs „All Mine“ (gemeinsam mit Ty Dolla Sign & Valee) und „Wouldn’t leave“ (unterstützt von PARTYNEXTDOOR, Ty Dolla Sign & Jeremih).

Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlen muss, in der Beziehung von Kanye West & Kim Kardashian zu stecken. Auf alle Fälle aus beiden Perspektiven beklemmend. Die Familie Kardashian-West ist jedenfalls Shitstorms bzw. Shit-Hurricanes gewohnt. Wie sich das in Zukunft auf das Leben und die psychische Verfasstheit der beiden Töchter auswirken wird, möchte ich mir gar nicht vorstellen (wir werden es ohnehin in 15 Jahren in den Boulevard-Medien sehen). Immer im Spotlight, immer im Elfenbeinturm des Celebrity-Daseins gefangen.

Die Ausraster von Kanye West in den letzten Monaten haben in jedem Fall auch seine Skandal-erprobte Ehefrau nicht kalt gelassen. In „Wouldn’t leave“ spricht Kanye über Loyalität und dass seine Frau angesichts der vielen Negativ-Reaktionen in letzter Zeit Angst hatte, die Familie würde alles verlieren und er alles zerstören. Eine berechtigte Sorge.

No Mistakes

Die vielen „Fehler“ bzw. Ausraster, die sich Kanye West in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit geleistet hat, sind an ihm und seiner Familie nicht spurlos vorüber gegangen. Der Song „No Mistakes“ (feat. Kid Cudi & Charlie Wilson) handelt von den finanziellen und mentalen Problemen, die er seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus vor ein paar Jahren hatte. Außerdem bezieht er sich in ein paar Textzeilen auf den Disput der letzten Wochen zwischen G.O.O.D. Music-Labelkollegen Pusha T und Drake.

The true soul of Ice Cube
Too close to snipe you (the Lord still shines on you)
Truth told, I like you
Too bold to type you
(Believe it or not)
Too rich to fight you
Calm down, you light skin!

(Kanye West - „No Mistakes“)

In die Produktion des Songs wurden Samples des Slick Rick-Songs „Hey young world“ und „Children get together“ von The Edwin Hawkins Singers eingewoben.

Noch 4 weitere Alben in der Pipeline?

Im vorletzten Song des Albums „Ghost Town“ (feat. PARTYNEXTDOOR, Kid Cudi und der Rapperin 070 Shake) geht es einmal mehr um Opiate und um das Spannungsfeld zwischen künstlerischem Visionär und Wahnsinn, in dem sich Kanye West bewegt. Angeblich werden in den kommenden Wochen noch vier weitere Alben von ihm bzw. unter seiner Mitwirkung erscheinen.

Baby, don’t you bet it all
On a pack of Fentanyl
You might think they wrote you off
They gon’ have to rope me off
Someday the drama’ll be gone
And they’ll pray, no, oh, no
Sometimes I take all the shine
Talk like I drank all the wine
Years ahead but way behind
I’m on one, two, three, four, five
No half-truths, just naked minds

(Kanye West - „Ghost Town“)

Den letzten Song „Violent Crimes“ widmet der Künstler seinen Töchtern bzw. allen Vätern von Töchtern. Es geht um typische Verhaltensmuster mancher Männer, deren Verhältnis zu Frauen sich schlagartig ändert, ab dem Moment wo sie selbst Vater einer Tochter werden.

Niggas is pimps, niggas is players, ‚til niggas have daughters
Niggas is pimps, niggas is players, ‚til niggas have daughters

(Kanye West - „Violent Crimes“)

Die letzten Worte auf dem Album stammen von Nicki Minaj, die ganz offensichtlich angefragt wurde, via Telefon einen Reim einzusprechen, der letztendlich im Song von Kanye West selbst gerappt wird, ihre Version wird im Outro eingesetzt.

I’m sayin’ it like...
I want a daughter like Nicki, aww, man, I promise
I’ma turn her to a monster, but no menagés
I don’t know how you saying it, but let him hear this

Ein ambivalentes Gefühl bleibt zurück

„Ye“ zählt sicher nicht zu Kanye West’s besten Platten. Es ist auch nicht die völlige avantgardistische Loslösung von gängigen Songstrukturen, die viele Menschen angesichts der letzten Monate erwartet haben. Angeblich hat er nach all den hitzigen Debatten, die seine unreflektierten Äußerungen zur Geschichte der Sklaverei und seiner Sympathie für Donald Trump in den letzten Wochen ausgelöst haben, alles verworfen, Textzeilen gestrichen und das Album komplett neu strukturiert.

Es handelt sich hier um ein Zeitzeugnis im Schaffenswerk eines Menschen, der dank seines Talents und Gespür für Musik zum Weltstar wurde und der in aller Öffentlichkeit unter einer psychischen Krankheit leidet, die sein Vermächtnis torpediert.

Ist Kanye West Opfer oder Täter? Muss man mit ihm Mitleid haben oder soll man ihn für die unreflektierten Schwachsinnigkeiten, die er sich zwischendurch erlaubt, verurteilen?

Ich zweifle daran, das seine bipolare Störung ihn zum Superhelden gemacht hat und verorte meine Gefühle irgendwo zwischen Ablehnung, Enttäuschung, Mitgefühl, Sympathie und Respekt vor seinem künstlerischen Werk. Denn „Ye“ ist trotz all der Probleme, die Kanye West hat, ein im wahrsten Sinne des Wortes kurzweiliges sehr persönliches Album geworden.

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