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Cover Viva la Vagina

S.Fischer Verlag

Buch

Viva la Vagina!

Zwei Medizinerinnen klären auf und schaffen dabei alte Mythen über das weibliche Geschlecht aus der Welt.

Von Conny Lee

Als Giulia Enders 2014 ihr Buch „Darm mit Charme“ veröffentlichte, traf sie damit einen Nerv - ein allgemeines Bedürfnis, endlich über Verdauung und alles, was damit zusammenhängt, zu sprechen. Ihr Buch war ein riesiger Erfolg und machte ein Thema salonfähig, über das bis dahin in der Öffentlichkeit kaum geredet wurde.

Inspiriert von diesem Vorstoß, haben die beiden norwegischen Medizinerinnen Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl ihr Buch „Gleden med Skjeden“ (auf deutsch „Freude mit der Scheide“) herausgebracht, im Deutschen erschienen unter dem schönen Titel „Viva la Vagina!“.

Mikrophon, Interview Podcast, Interviewpodcast

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Die zwei Autorinnen Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl im FM4 Interview Podcast

Der „normale“ Unterleib

Angefangen hat eigentlich alles mit ihrem Blog Underlivet (Unterleib), den sie 2015 gestartet haben. Darin widmeten sie sich Fragen von Männern wie Frauen zu Sexualität und Geschlechtsanatomie. Nach kurzer Zeit schon gingen die Zugriffszahlen und die E-Mails durch die Decke. Die Fragen an die zwei Bloggerinnen, von Männern und Frauen, Alt und Jung, drehten sich größtenteils um die zentrale Frage: Bin ich normal? Ist es normal, wie das aussieht, ist es normal wenn ich Schmerzen habe, wenn ich keine Lust habe und so weiter und so fort. Für Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl wurde deutlich, wie groß der Bedarf an Aufklärung ist, und so machten sie sich daran, ihr Buch zu verfassen. Sie beschlossen, sich dabei auf das weibliche Geschlecht zu konzentrieren, um ausführlich auf die vielen Fragen einzugehen, ohne oberflächlich zu werden oder den Rahmen zu sprengen.

Bei uns gibt es zwar den Aufklärungsunterricht in der Schule, aber für die beiden Autorinnen ist der bei weitem nicht ausreichend. Am Beginn ihres Buches widmen sie sich dem Genitalbereich und den Geschlechtsorganen und beschreiben da zum Beispiel, wie eine Klitoris in Wirklichkeit aussieht - dass nämlich das, was allgemein als Klitoris bezeichnet wird, nur einen kleinen Teil des gesamten Organs ausmacht, das vielmehr aussieht wie eine geknickte Wünschelrute.

Noch im Jahr 1948 beschlossen die Verfasser des renommierten Anatomieatlas ‚Grey’s Anatomy‘, die Klitoris nicht namentlich zu erwähnen. Die männlich dominierte Medizinwelt hatte kein besonderes Interesse daran, die Klitoris weiter zu erforschen. Noch immer besteht Uneinigkeit darüber, was genau zur Klitoris gehört und wie sie funktioniert. In medizinischen Zusammenhängen ist das schon ungewöhnlich.

Die Autorinnen widmen sich auch anderen sagenumwobenen Körperteilen wie dem G-Punkt oder auch dem Jungfernhäutchen. Das wird oft als eine Art Siegel imaginiert, an dessen Unversehrtheit man die Jungfräulichkeit einer Frau nachweisen könne - daher der Name. Der medizinische Fachbegriff lautet Hymen, und das kann man sich - so die beiden Medizinerinnen - wie ein Gummiband vorstellen, das allerdings nur bei zirka der Hälfte aller Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr verletzt wird und somit blutet.

Bild aus Viva la Vagina

S. Fischer Verlag

Mit sogenannter Hymenoplastik und über das Internet erhältlichen falschen Häutchen mit Kunstblut versuchen Frauen noch heute sicherzustellen, dass sie im erforderlichen Moment bluten. Dabei weiß die medizinische Community seit mehr als 100 Jahren, dass weder intaktes Hymen noch Bluten Beweise dafür sind, dass eine Frau bereits Geschlechtsverkehr hatte oder nicht. Mithilfe dieses hartnäckigen Mythos wird die Sexualität von Frauen weltweit bis heute kontrolliert. Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl ist es ein großes Anliegen, die Wahrheit über das Hymen zu verbreiten.

Bei ihren Recherchen wurden sie immer wieder damit konfrontiert, dass Forschungen, Studien und medizinische Fachliteratur mehrheitlich aus männlicher Perspektive verfasst wurden. Das kann insofern problematisch sein, als über lange Zeit von falschen Prämissen ausgegangen wurde. Zum Beispiel wurde während der Entwicklung der Pille ursprünglich eine einwöchige Pause bei der Einnahme des Präparats eingeplant, in der die Frau bluten sollte, weil man davon ausging, dass Frauen sich dann wohler mit der Pille fühlen würden. Aus heutiger Sicht weiß man zwar, dass die Blutung nicht notwendig ist, aber bis heute sind viele Frauen darüber verunsichert.

Bei ihren Nachforschungen zum Hymen wurden die beiden Autorinnen immer wieder gefragt, inwiefern das Hymen überhaupt medizinisch relevant sei. Für Brochmann und Dahl ist diese Frage selbst irrelevant, weil Frauen, die kein vermeintlich intaktes Hymen vorweisen können, oft die Ehre aberkannt wird und manche dafür sogar umgebracht werden.

Auch dem Thema Verhütung widmet sich das Buch „Viva la Vagina!“ ausführlich. Dabei wird genau erklärt, wie die unterschiedlichen Methoden funktionieren, wie sich die diversen Hormonpräparate auf den Zyklus auswirken. Es werden aber auch alle möglichen Nebenwirkungen aufgelistet. Dabei führen die Autorinnen auch zahlreiche Studien an und erklären sie verständlich. Gerade bei der Interpretation solcher Studien stehen oft reißerische Headlines im Vordergrund. Zum Beispiel zeigte eine Studie auf, dass bei jungen Frauen zwischen 15 und 19 das Risiko, an einer Depression zu erkranken, durch die Einnahme der Pille von 1% auf 1,8% ansteigt. Die Schlagzeilen, die um die Welt gingen, sprachen von einem 80% höheren Risiko - gleicher Anteil, klingt aber nach viel mehr. Die Autorinnen betonen, dass negative Nebenwirkungen existieren und ernstgenommen werden müssen, aber auch dass hormonelle Verhütung für die Mehrheit der Frauen gut funktioniert und sicher ist.

Cover Viva la Vagina klein

S. Fischer Verlag

„Viva la Vagina“ von Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl, erschienen bei S. Fischer, aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Nora Pröfrock

Ein anderer Mythos ist, dass sich die Menstruation von Frauen, die zusammenleben oder viel Zeit miteinander verbringen, irgendwann synchronisiert. Im Buch steht dazu: „Ein Harvard-Psychologe meinte, dies nachgewiesen zu haben, nachdem er den Menstruationszyklus junger Frauen studiert hatte, die an ihrem College in den USA im selben Studentenwohnheim wohnen. Evolutionsforscher stürzten sich auf die Theorie und fanden es für Frauen äußerst vorteilhaft, wenn sie gleichzeitig ihre Regel und den Eisprung hätten, damit die Männer nicht versucht wären, von einer Frau zur anderen zu hüpfen, sondern stabile Partnerschaften bildeten. Tatsächlich glauben anscheinend 80 Prozent aller Frauen an den Mythos einer synchronen Menstruation. So nett sich das auch anhört, deuten neuere Forschungsergebnisse darauf hin, dass wir einer Mär aufgesessen sind. [...] Dass es so aussehen kann, als würden wir im Gleichtakt menstruieren, erklärt sich eher dadurch, dass die individuelle Zykluslänge stark variiert.“

Den gigantischen Themenkomplex Schwangerschaft und Geburt haben Brochmann und Dahl komplett ausgeklammert - erstens, weil das Buch so schon über 300 Seiten umfasst, und zweitens, weil es dazu bereits sehr viel ausführliche Literatur gibt.

Wissen ist Macht

Vieles, was unseren eigenen Körper betrifft, ist immer noch von Mythen und Halbwahrheiten vernebelt. Wissen bedeutet, auch was den eigenen Körper betrifft, Macht. Nur indem man versteht, wie Verhütung funktioniert und was es alles für Möglichkeiten und Risiken gibt, kann man bewusst und vernünftig eine Entscheidung treffen. Indem der Mythos vom Jungfernhäutchen endlich aus der Welt geschafft wird, können Frauen verstehen, dass niemand Kontrolle über ihre Sexualität hat außer sie selbst. „Viva la Vagina!“ ist ein wichtiges Buch, aus dem man viel lernen kann und das althergebrachte Ammenmärchen durch Fakten aufklärt. Nina Brochmann und Ellen Støkken Dahl wollen uns Mut machen, endlich offen und ohne Tabus über unsere Körper und Sexualität zu sprechen!

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