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Blumenaus WM-Journal

Alles über die Vorrunden-Weisheit und ein System-Update nach dem Ende von Runde 1

Die Gruppe H mag bockig gegen den Trend anspielen - ab jetzt wissen alle, wer sie sind.

Von Martin Blumenau

Es gibt eine alte Turnier-Weisheit, was die drei Spiele der Vorrunde betrifft, von Herberger, Menotti, Shankly oder Bob Marley, ich hab’s gerade vergessen, und die geht so: „Das Spiel der 1. Runde sagt dir, wer du wirklich bist; die 2. Runde erzählt dir was über deinen Charakter und die 3. Runde zeigt, ob du die Nerven hast.“ Ich finde dieses Triptychon bringt etwa die letzte Euro Österreichs schön auf den Punkt.

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Die hiermit beendete 1. Runde hat jetzt also allen Teams gezeigt, wer sie wirklich sind. Nicht den Schein, sondern das Sein. Und es sind mehrheitlich nicht die Bilder, die die Verbände (vor allem die der Favoriten) sehen wollen; sie weichen massiv von den aufgedonnerten Selbstbildern ab. Und das ist für die großen Player, die - ebenso wie alle großen Vereine - in ihrer eigenen Medienblase leben, in den von ihnen selber hergestellten Nachrichten und Social-Media-Feeds, wo sie die komplette Kontrolle über diese Bilder haben, ungewohnt. Und deshalb auch schwerer zu bewältigen als früher, als man diese Kontrolle noch an die Medien abgegeben hatte (die mit dieser Verantwortung auch Scheiße umgegangen sind, aber das ist eine andere Geschichte).

Deshalb dann die Sache mit dem Charakter in Runde 2. Denn jetzt gilt es eben zu erkennen, wer man ist. Nicht die beste Mannschaft der Welt, sondern doch nur eine Truppe, die um einen echten Weltklassespieler herumgebaut ist und sich damit allzu abhängig gemacht hat. Und das betrifft nicht nur den obligaten Messi, das gilt auch für Toni Kroos und Deutschland, oder auch Brasilien und Neymar. In den Erstrunden-Spielen dieser drei Mannschaften war die Wehleidigkeit das zentrale Motiv; egal ob zurecht (wegen Überhärte) oder aus absurden Gründen (weil man den Mann halt aus dem Spiel genommen hatte).

Erkennen wer man ist: etwa ein Favorit, ein Ex-Weltmeister, der es gegen echte Außenseiter, gegen teilweise wirklich schwache Teams nur knapp oder mit Glück oder gar letztmomentig schafft. Da ist die Charakterfrage ob man den Schuss vor den Bug erkennt und etwas daraus macht.

Andere stehen mit ganz leeren Händen da, obwohl sie schon Bärenfelle verteilt hatten, und das womöglich sogar durch echte Nackenschläge. So wie heute Kolumbien oder Polen, durch 90-minütige Unterzahl oder durch absurde Gegentore. Da stellt sich die Frage, ob man es schaffen wird, den verfrühten Größenwahn einfangen zu können. Ihre heutigen Gegner, die einzigen Sieger aus Afrika bzw. die einzigen verdienten Sieger aus Asien, wissen jetzt, wer sie auch sein können - wenn sie weiter Charakter zeigen.

Das gilt für die vielen glücklichen Sieger aus Europa, die vom Balkan oder die aus Skandinavien. Und die wirklichen Sieger der 1. Runde, die die allseits anerkannten Top-Leistungen geboten haben, die haben in alter römischer Tradition hoffentlich einen Flüsterer auf ihrem Triumph-Wagen, der anmerkt, nicht zu vergessen, dass man sterblich sei.

Und dann sind da noch die vielen, die jetzt wissen, was ihnen vorher auch schon klar war: sie sind Pariahs, die auf den einen lucky punch, der ihnen in ihrer WM-Geschichte zusteht, eben noch warten müssen. Vielleicht auch noch weitere vier oder acht Jahre.

Rechnet man das Momentum der 1. Runde hoch, ergibt sich übrigens ein Finale zwischen Mexiko und dem Sieger aus der Portugal/Spanien-Gruppe. Und Belgien ist der vierte Halbfinalist. Natürlich nur ein Unsinn, eine Spielerei. Denn die erste Runde zeigt ja nur, wer du wirklich bist, wenn dir die Realität eines Turniers das Selbstbild vom Grinse-Antlitz gerissen hat.
Im Übrigen ist die dreistufige These von mir - aber nicht weitersagen, klingt besser, wenn man sie einem alten Weisen zuschreibt, es muss ja nicht gleich Sepp Herberger, NSDAP-Mitglied ab 1933, sein.

Eine kurze Systemkunde

Klar sagt ein Spielsystem allein nichts aus. Wichtig ist wie man es interpretiert; und dass es zu den Spielern passt. Trotzdem ist eine kleine Statistik der ersten 16 Spiele aufschlussreich.

Im Gegensatz zu den Erwartungen im Vorfeld und zu aktuellen internationalen Gepflogenheiten haben nämlich nur drei der 32 Teams in der Anfangsformation mit einer Dreier/Fünfer-Abwehr gespielt - die Viererkette war unglaublich dominant. Mich überrascht das sehr.

Etwa zehn Mannschaften waren mit einem 4-2-3-1 unterwegs, fast genausoviele mit einem 4-4-2 oder 4-4-1-1. Sieben spielten mit einem 4-3-3, drei weitere mit einem klar davon abgesetzten 4-1-4-1.

Die drei abweichenden Varianten waren Costa Ricas 5-4-1, Belgiens 3-4-3 und das englische 5-3-2.

Und natürlich wurde innerhalb des Spiels dann geswitcht - Polen wechselte etwa vom 4-2-3-1 der 1. Hälfte nahtlos zu einem 3-4-3 in Halbzeit 2 - Ähnliches tat auch Tunesien gegen England; sonst waren es meist kleinere Nachschärfungen.

Noch eklatanter ist die Statistik bei den Defensiv-Formationen der Teams, also der Art, wie sie einen im Aufbau befindlichen Gegner empfangen - diese Formation unterscheidet sich ja oft von der, die bei eigenem Ballbesitz aufgeboten wird (auch so eine Entwicklung der letzten Jahre, dass jede Mannschaft letztlich zwei Grundsysteme pro Match spielt). Gleich 2 Drittel aller Teams stehen da in einem 4-4-2.

Mannschaften, die ein offensives 4-3-3 pflegen, tun sich da schwerer und behalten ihr Ding dann manchmal bei (3 Beispiele gab’s), dazu kommen ein paar Sonderfälle und die drei bereits erwähnten Fünfer-Reihen. Den vom österreichischen Frauen-Nationalteam gern gespielten Trick einer automatisierten defensiven Fünferkette (den Puntigam-move) sieht man bei den Herren nur situativ oder eine Halbzeit lang, nie jedoch als durchgehendes strategisches Mittel.

Das interessanteste System in Runde 1 war (neben dem bereits anderweitig ausgeführten Lehrspiel England vs. Tunesien), das, was Herve Renard gegen den Iran aufs Feld stellte. Das klappte nur eine Halbzeit lang und führte auch nicht zum Torerfolg, sondern reichte nur für Überlegenheit und totalen Druck, aber es hatte etwas vom totalen Fußball der alten Holländer. Renard hatte eine fixe Vierer-Abwehr und einen fixen Stoßstürmer - dazwischen aber waren die fünf Mittelfeldspieler angehalten ihre Positionen so zu wechseln wie R.E.M. ihre Instrumente beim letzten Konzert einer Tournee - also ununterbrochen. Wie gesagt; es war ein Experiment, das nicht von Erfolg gekrönt war, aber es war eine Halbzeit lang so gut anzusehen wie das Set Design von Westworld, atemberaubend und gefährlich.

1. Runde
Kolumbien : Japan 1:2 Review
Polen : Senegal 1:2 Review
2. Runde
Japan : Senegal 2:2
Polen : Kolumbien 0:3
3. Runde
Senegal : Kolumbien 0:1
Japan : Polen 0:1

Gruppe H

Kolumbien 2 0 1 5:2 6
Japan 1 1 1 4:4 4
Senegal 1 1 1 4:4 4
Polen 1 0 2 2:5 3
Gruppe A Gruppe B Gruppe C Gruppe D
Russland Portugal Frankreich Argentinien
Saudi-Arabien Spanien Australien Island
Ägypten Marokko Peru Kroatien
Uruguay Iran Dänemark Nigeria
Gruppe E Gruppe F Gruppe G Gruppe H
Brasilien Deutschland Belgien Polen
Schweiz Mexiko Panama Senegal
Costa Rica Schweden Tunesien Kolumbien
Serbien Südkorea England Japan

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