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Tocotronic live am Donauinselfest 2019

Franz Reiterer

fm4 festivalradio

Let There Be Rock: Tocotronic krönen den letzten Abend am Donauinselfest

Das 36. Donauinselfest ist zu Ende: Sonne, Regen, Staub, die ganz großen Gefühle. Auch am letzten Abend wartet die FM4/Planet.tt-Bühne mit einer interessanten und teilweise schrägen Kuratierung auf. Tocotronic überstrahlen alles.

Von Lisa Schneider

Das heurige Donauinselfestival war vor allem eins: eine Feier der hiesigen Musikszene im genreübergreifenden Sinn. 80 Prozent aller auftretenden Künstler und Künstlerinnen kamen dieses Jahr aus Österreich. Die FM4/planet.tt zieht da, und eigentlich immer schon, mit.

Lijon feat. Clint: Pack den Bass aus

Schon am frühen Abend darf man sich auf dieser Bühne über einen kleinen, heißen Newcomer-Tipp freuen. Im April 2018 hat Stephan Paulitsch sein Solo-Projekt gestartet, damals noch unter dem Namen Lijon – heute steht er als Lijon feat. Clint auf der Bühne.

Änderung im Namen, aber nicht im Sound: das Geradlinige, Minimalistische steht im Vordergrund. Bass, Drums, alles pumpt und vibriert. „Wenig nach viel klingen zu lassen, ist mein Ziel. Auch wenige Worte haben viel Aussagekraft.“ Verschmuste, groove-lastige Nummern zu den großen Themen Liebe und Verlust, aber auch zur Selbstfindung. All die Dinge also, die man am besten auf einem Festival bespricht.

Blond: Wir machen immer, was wir wollen und nie, was wir sollen

Und nach diesem so schön zurückgelehnten Start in den letzten Abend hier auf der FM4/Planet.tt-Bühne am Donauinselfest soll’s schon nochmal den guten, lauten, schrillen Krach geben. Dass das deutsche Trio Blond bringt ihn mit.

„Unterhalten - das ist es, was wir wollen. Ein bisschen lachen, tanzen und erzählen auf der Bühne. Natürlich soll die Musik die Leute mitnehmen, aber vor allem sollen sie Spaß mit uns haben. Wir denken da immer gern an Shows von Katy Perry oder Lady Gaga“, erzählen Blond in einem Interview. „I kissed a girl and I liked it“ gibt’s deshalb als obligatorisches Cover. Ansonsten, zumindest was die Kostüme angeht, mehr Gaga als Perry: Silberglitzerkleider, Pinkglitzerkleider, Netzshirts mit Goldsprenkeln. Die dunkle Sonnenbrille. Und popkulturell überhaupt wo ganz anders: Die Wurzeln sind so gut wie nicht zu verorten.

Ein bisschen Garagerock, ein bisschen Punk. Und dann steht plötzlich Drummerin Lotta auf und rappt ein paar Zeilen. Gute Schreihälse und liebe Performer. Die Wanderung durchs musikalische Gemüsebeet.

Eine Band, die einen Hit schreibt, der keiner sein will. Oder doch? Das Kokettieren mit der deutschen Sprache funktioniert natürlich hierzulande ebenso wie daheim, darauf baut ein Großteil der Überzeugungskraft der Band auf. Und auf den zwischendurch eingeschobenen Choreographien, die gut zwischen Selbstironie und Mitmach-Anfeuerung pendeln.

Scheibsta & die Buben

Die guten trampelnden Elefanten. Die Dickhäuter im Open-Air-Zimmer, weil der Bass hier wummert und alles rundherum dröhnt. Stampfen also, Stampfen und Reimen. Scheibsta & die Buben reisen mit ihrem neuen, pragmatisch betitelten Album „Nächstes Kapitel“ auf die Insel. Sie sind aus Salzburg gekommen, um alle mit Empathie und Überzeugungskraft um den Finger zu wickeln. Und natürlich mit der alten Scheibsta-Tradition, mal eben so einen Freestyle-Song hinzulegen.

Das Publikum wählt den ersten Satz des neuen „Hits“ und los geht’s. Erster Vorschlag aus der crowd: „We’re going to Ibiza.“ Scheibsta schmunzelt. Er rappt über die Nordsee - und die Frauen dort. Und die Männer.

Irgendwann landen wir aber trotzdem mit H.C. Strache, Gudenus & Co am Strand. Dieser Festivalsommer wird, zumindest in Kreisen und zumindest in Österreich, wohl nicht ohne die Vengaboys-Anekdote auskommen.

Kein Macho-Gehabe und keine Belehrung, trotz oder wegen politischer Zwischenansagen und charmanter Seitenhiebe auf die österreichische Innenpolitik. Und über Athen. Lieber treten Scheibsta & die Buben etwa in die Fußspuren der großen Texta, schupfen die Reime über den Alltag, den jeder und jede kennt. Das ist auch deshalb besonders schön, weil sich Philipp „Scheibsta“ Scheiblbrandner nach ihrem Auftritt im FM4 Interview an einen Moment vor acht Jahren erinnert, sein denkwürdigster am Donauinselfest bis jetzt. Da hat er auf der FM4/Planet.tt-Bühne Texta live gesehen. Und jetzt? Steht er selbst da oben.

Es geht auch hier weiter mit den großen Themen, die die Menschen am Festival - und überhaupt - zusammenhalten. Liebe, Unglück, Selbstverliebtheit: „Schüttel doch einfach mal dein Herz aus - aber bitte nicht schon wieder dein Bier.“ Auch schön: die Anregung der Band an alle, mal endlich offline zu gehen. Das Handy aus der Hand zu legen und statt eines perfekten Instagram-Postings den Moment mitzunehmen. Mäandernde Soli, der smoothe Jazz und die Spielfreude auf der Bühne sind zusätzliche Live-Zünder.

Die Eutopia-Bühne: auch heuer ein guter Ort

Apropos Rap: Auf der benachbarten Eutopia-Bühne gab’s am Sonntag ein fabelhaftes Line-Up zu genießen. Our very own Trishes & DJ Phekt haben aufgelegt, danach Dalia Ahmed. Und danach ist auch schon, elangetrieben und ready for some action, „der Pole aus Wien“, Rapper Slav, auf die Bühne gesprungen.

Juju

radio fm4 / Lisa Schneider

Juju schickt Bussis ans Publikum. Das Donauinselfest ist erst das zweite Festival, das sie als Solokünstlerin bespielt. Am Sonntag ist sie als Headlinerin auf der Eutopia-Bühne aufgetreten.

Wer kurz zurückdenkt an den ersten Abend hier – Freitag - weiß, dass Slav und Jugo Ürdens vor allem gern gemeinsam auf der Bühne stehen. Die beiden leben ja auch immerhin in einer richtigen Künstler-WG zusammen. So romantisch die Vorstellung auch ist, mittlerweile schreiben sie Songs eher für ihre Soloprojekte als gemeinsam (wie noch etwa „Läuft"), aber wenn’s dann um die Liveperformance geht, unterstützen sie sich gegenseitig. Die Menge tobt einmal mehr dort oben im Himmelreich Eutopia – und die Stimmung ist perfekt für Ebow und bleibt auch heiß für die Headlinerin: Juju.

Juju kommt aus Berlin und war eine Hälfte des deutschen Rap-Duos SXTN. Gerade letzte Woche ist ihr erstes Solo-Album erschienen, es trägt den klingenden Titel „Bling Bling“. Die Goldkettchen rasseln. Der Status hat sich eben geändert – als Juju mit 14 Jahren begonnen hat, Songs zu schreiben, hat das noch so ziemlich niemanden interessiert. „Ob man die auch wirklich als Songs bezeichnen kann, bezweifle ich“, lacht sie im FM4 Interview. „Es war damals vor allem auch eine neue Sache, als Frau zu rappen. Da gab es neben Schwester Ewa eigentlich nicht sehr viel.“

Das sehr junge Publikum, das gestern bei Yung Hurn den Moshpit bestritten hat, steht am Sonntagabend - sardinenartig geschlichtet - vor der Eutopia-Bühne. Wer nur Jujus Song „Vermissen“ gemeinsam mit AnnenMayKantereit-Sänger Henning May kennt, sollte sich live eines besseren belehren lassen. Auch, wenn dieser ihr wohl zum kommerziellen Durchbruch verholfen und sie an die Spitze der Singlecharts geführt hat. Juju kann nämlich viel mehr als verschnörkselte Pop/Rap-Nummern Marke Spätneunziger zu schreiben.

Die harte Sprache der Berliner Straße: Juju rappt auf „Bling Bling“ - und gestern auf der Donauinsel - über ihre Anfänge „am Dönerstand“. Deftige, harte Beats, da ist nichts schön oder schöngeredet. Dann rappt sie aber auch darüber, wie jetzt alles gleißt und glitzert. Statusänderung.

Es ist ihr erster Auftritt in Wien und überhaupt erst das zweite Festival, auf dem sie solo auftritt. Nächstes Jahr wird Juju ihre erste große, zweimonatige Tour spielen. Sie kommt auch zurück nach Österreich.

Tocotronic: „Ach, herrlich“

Die Freaks sind endlich wieder in Wien. Es ist gleichzeitig alles neu und alles wie früher. So, wie es eben sein muss, wenn eine Band ihr bereits 12. Album veröffentlicht hat. Es muss „Die Unendlichkeit“ heißen. Dirk von Lowtzow schüttelt die wunderbar ergraute Mähne.

Künstler/Bürger, Kopf/Bauch, Herz/Verstand. Tocotronic waren immer eine Band, die beides vereint hat, auch wenn die Neider oder Hasser sich lieber dem Vorwurf der eitlen Pseudointellektualität angeschlossen haben (wer seine Bandkollegen auf der Bühne mit „Prince of Maine, King of New England“ vorstellt, hat seine Literaturhausaufgaben gemacht - John Irving freut sich). In den 90ern noch ganz im Werther-Style jung und heroisch, mit dem Wunsch, gegen alle möglichen Mauern mit Indie-Gitarren anzuschrammeln und die stoischen deutschen Mittelschicht-Kids aus ihrem Wachkoma zu reißen. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, hieß es da noch. Weil sich, wenn schon sonst nirgends, wenigstens in der Musik was tun sollte.

Der Altersschnitt im Publikum ist im Vergleich zum Vorabend erheblich gestiegen. Sie kennen die Texte. Sie wippen sanft mit, währen Dirk von Lowtzow auf der Bühne expressive Grimassen zu Zeilen wie „Ich halt’ das alles nicht mehr aus“ (Electric Guitar) singt und zischt und grumpelt.

Mit Alben wie „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) und „Kapitulation“ (2007) war die stringente Klugheit der Band auf den Punkt gebracht. Knackige Sätze, die keine Ausformulierungen brauchen. „Was du auch machst / Mach es nicht selbst / Auch wenn du dir / Den Weg verstellst.“ „Aber hier leben, nein danke.“ Kapitulation eben, vorm Gegenüber, vor allem aber sich selbst gegenüber. Vielleicht ist das letzte, aktuelle Album „Die Unendlichkeit“ nur ein logischer Schluss. Es will weniger. Auch musikalisch. Selbst, wenn die Band sich nie damit gerühmt hat, ein besonders eifrig arrangiertes Instrumentarium ihr eigen zu nennen. Weniger ist manchmal doch noch mehr.

Sterne glitzern am Cover des Albums „Die Unendlichkeit“, und sie glitzern zumindest hinter den Wolken über der Donauinsel. Pärchen liegen fernab der Bühne schmusend in der Wiese. Sonntagabend - es ist ein guter Abend, um über das Leben nachzudenken. Und geht das besser als mit einer erfahrenen, ja, sagen wir’s, gediegenen Band wie Tocotronic? Ihre neuen Songs handeln schließlich auch genau davon, von Jugendsünden, vom Kennenlernen und wieder Verlieren. Vom Zurückschauen auf Vergangenes, auf den Weg, den man nicht gegangen ist.

Die Texte stammen natürlich wie immer aus der Feder von Dirk von Lowtzow, ein autobiographisches Versuchsspiel. Ein schneller Vorwurf: Ist das jetzt nicht mehr der intellektuelle, rhetorisch mehrschichtige Pop, den man jahrelang lang zelebriert hat? Dabei muss man sich fragen: Wie sehr kann man die eigene Geschichte in eine doppelbödige verpacken? Ist nicht der direkte Weg am einfachsten, aber auch ehrlichsten, am authentischsten? „Ich öffne mich“ hat noch ein Song am „roten Album“ aus 2015 geheißen. Runter vom Abstraktionsturm, der theatralischen Dalektik. So die Band. Wieder irgendwie zurück an den Anfang, als alles noch unbedeutend und einfach war, weil man eben eine unbedeutende und einfache Band war.

Der Kreis schließt sich hier, gestern Abend auf der Wiener Donauinsel. Es gibt eine Tocotronic-Hitliste, auch wenn etwa „Kapitulation“ leider gefehlt hat. Dafür „This Boy Is Tocotronic“ oder „Letztes Jahr im Sommer“. Die spannende Frage bleibt jetzt, in welche Richtung der nächste Schritt von Tocotronic gehen wird. Bis dahin ergötzen wir uns an ihren über die letzten 26 Jahre verstreuten Weisheiten: Genau wie jetzt, nur ein bisschen anders wird es sein.

Melancholie, Frischluft und der zu Unrecht verrufene Diskurspop: ein Abschluss, wie er sein soll, nachdem auf der Donauinsel drei Tage lang der laute, musikalische Wahnsinn gewütet hat. Die Ausnahmezone Festival, die sich wie jede andere Lebenslage mit einem Zitat von Tocotronic erklären lässt: Pure Vernunft darf niemals siegen.

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