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FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

FM4 Im Viertel: Mit EsRAP durch das Brunnenviertel aka Tschuschistan

In Episode zwei von FM4 Im Viertel führt uns das Wiener HipHop-Duo EsRAP durch das Brunnenviertel – oder wie sie es nennen: „Tschuschistan“. Das austro-türkische Geschwisterpaar zeigt, in welchem Beisl am Yppenplatz sie ihre Texte schreiben, wann man am Brunnenmarkt am günstigsten einkauft und ob Esra als Frau ins türkische Herrencafé darf.

Von Florian Wörgötter

Das eben erschienene Debütalbum von EsRAP nennt sich selbstbewusst „Tschuschistan“ und reflektiert das Aufwachsen zwischen türkischer Gastarbeiterkultur und Wiener Studentenleben. Kaum ein Ort in Wien vereint diese beiden Welten kompakter als der Yppenplatz im 16. Wiener Gemeindebezirk Ottakring, mit seinen hippen Beiseln und dem bunten Bazarleben des Brunnenmarktes. Zeit für einen Besuch.

„Tschuschistan ist für uns der Yppenplatz, das Brunnenviertel, unser Ottakring, aber auch ein utopischer Ort, an dem jeder willkommen ist und sich zuhause fühlt“, erklärt Esra Özmen das Mindset hinter dem Albumtitel. Inwieweit der Yppenplatz diese Utopie realisiert? „Wir fühlen uns hier sehr wohl, solange die Polizei uns nicht mit Kontrollen provoziert“, sagt Esra. „Als wäre der Yppenplatz ein gefährlicher Ort, doch das ist er nicht.“

FM4 Im Viertel: Eine Reportagereihe

In der neuen Radioreihe FM4 Im Viertel spaziert Florian Wörgötter mit österreichischen Musiker*innen durch ihr Wohnviertel. Beim Flanieren durch spannende Gegenden erfahren wir, wie die Künstler leben, wie ihr Grätzl klingt und wie sich dieser Sound in ihrer Musik wiederfindet.

Episode 0: Mit Monobrother durch das Stuwerviertel in Wien Leopoldstadt
Episode 1: Mit 5/8erl in Ehr’n über den Wallensteinplatz in Wien Brigittenau

Willkommen in Tschuschistan

Die Rapperin Esra, eine Powerfrau mit Kunstdiplom und wallender Lockenpracht, bestätigt jedes Statement mit einem „So schaut’s aus“–Zungenklacksen. In ihren Strophen fegt sie in vorwiegend deutschen Worten über den Beat wie ein Orkan.

Mit EsRAP im Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Ihr jüngerer Bruder Enes, Bartträger mit treuem Blick und brauner Lederjacke, boxt beim Spazieren liebevoll seinen Schatten. Er singt die sentimentalen Arabesken in den meist türkischsprachigen Refrains.

Mit EsRAP im Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Das dynamische Duo eröffnete die letzten beiden Wiener Festwochen am Rathausplatz, skandierte bei den Donnerstag-Demos und entzündete vor kurzem den Yppenplatz beim Release-Konzert ihres überfälligen Debütalbums.

Hipster’s Paradise

Beide teilen die Meinung: Der Yppenplatz ist ein Paradebeispiel für ein authentisches Nebeneinander von alteingesessenen Wienern, migrantisch geprägter Arbeiterklasse, Bobos und Studenten. Vor 15 Jahren nannte man ihn noch „Klein-Istanbul“, heute sei er sehr vielmehr durchmischt. Die „Arbeiterklasse“ treffe sich untertags im Yppenpark, während die „Privilegierten und die Studenten“ nebenan in den hippen Beiseln abhängen, meint Enes. Mit seinen Freunden kommt er am liebsten abends in den Park, trinkt mitgebrachten türkischen Tee („çay“) und knabbert Sonnenblumenkerne („çekirdekler“).

FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Wir flanieren vorbei an den gut besuchten Gastgärten von Café Frida, Dellago und Café AnDo, wo Muttis bei Matcha-Latte ihren Boogaboo-Kinderwagen parken und Papas mit Pornobalken ihren Veggie-Burrito hamstern. „Vor fünfzehn Jahren wäre der Platz hier noch leer gewesen, meint Esra, nur am Wochenende seien Leute zum Biomarkt gekommen.

Esra und Enes verbringen ihre Zeit im Stammlokal Club International, kurz: C.I. Hinter dem 1986 eröffneten Café steckt ein Verein zur Integration von Zuwanderern. An der Bar liegt eine Zeitschrift zum Thema Integration. Im Hinterzimmer werden Deutschkurse angeboten.

FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

„Im C.I. bin ich aufgewachsen. Hier schreibe ich meine Texte, hier kann ich auch ich sein“, sagt Esra und reicht ihrem Bruder ihre brennende Zigarette. Seit die beiden Geschwister klein sind, teilen sie alles – Auto, Moped, Texte, Bühne, vor Enes’ Hochzeit sogar ein Zimmer. „Nur meinen Hamburger kriegt sie nicht“, sagt Enes, „McDonalds“.

Türkischer Kaffee

Ums Eck war einst noch das türkische Kaffeehaus Maradonna, wo schon sein Vater, seit 40 Jahren in Österreich, Karten gespielt hat um die nächste Runde çay. „Türkische Männer gehen entweder in die Kantine der Moschee, philosophieren über Religion und schauen Fußball. Oder sie sitzen im türkischen Kaffeehaus, spielen Karten – und schauen Fußball“, erklärt Enes den Alltag der alten Generation. Ob die beiden selbst ins Kaffeehaus gehen? „Nein, Frauen gehen nicht hinein“, sagt Esra.

Mit EsRAP im Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Obwohl kein Verbotsschild an der Türe hänge, sei die türkische Kaffeehauskultur einfach ohne Frauen gewachsen. Würde Esra gerne ins Herrencafé? Esra resolut: „Ich bin die Tochter von Hüseyin, ich komme überall rein.“ Ihre Zunge klackst wieder.

Mit ohne Kopftuch

Im Song „Da Boss“ rappt Esra von ihrem Vater, der zwar einen Benz fährt, aber auch putzen würde – und von ihrer Mutter, die ein Kopftuch trägt, was sie als Symbol der Freiheit deutet. Esra selbst hat ein Kopftuch nur getragen, als sie früher in die Moschee ging, kennt aber die Bedürfnisse dahinter. „Die Frau selbst darf entscheiden, was Feminismus und Freiheit für sie bedeutet. Wenn sie selbst bestimmt, dass sie ein Kopftuch tragen möchte, dann ist das ihre selbst gewählte Freiheit“, sagt Esra. „Ich habe auch immer weite HipHop-Hosen getragen, was für viele Mädchen alles andere als weiblich war.“

Mit EsRAP im Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Ein Verbot des Kopftuches aber schränke – wie jedes andere Verbot – die persönliche Freiheit ein: „Irgendwelche Männer in der Regierung sollen entscheiden, ob ich mit einem Kopftuch frei bin oder nicht? Wir entscheiden das schon selbst.“ Stattdessen empfiehlt sie, in der Schule mehr über Feminismus zu debattieren.

I’m an artist you’re rules don’t apply

Beim Schlagwort „Gentrifizierung“ zeigt die Doktorratsstudentin der Akademie der bildenden Künste auf das zentrale Graffiti am Yppenpark: ein symbolisches Kunstwerk an einer der legalen Wände, das drei Menschen verschiedener Hautfarbe zeigt, wie sie sich an den Händen halten. Die plakative Überschrift „I’m an Artist your rules don’t apply“ passt zwar durchaus zum künstlerischen Selbstverständnis von EsRAP, visuell sei es auch „wunderschön, aber kein Tschuschenstyle“. In Ottakring habe sich keiner für Künstler interessiert, bevor die Brunnenpassage zeitgenössische Kunst aus den Innenbezirken über den Gürtel hierher gebracht hat.

FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Am Eingang des Kunstvereins Brunnenpassage firmieren interkulturelle Botschaften wie „Transkültürellik“ oder „Kunst für Alle“. Esra schätze die Arbeit der Brunnenpassage vor allem, weil ihre Künstler die Nachbarschaft in ihre Kunst einbeziehen. „Sie machen nicht nur ihre Kunst, sondern sie machen Kunst mit uns.“

World wide Brunnenmarkt

Nach einem Abstecher in der türkischen Konditorei „Kamelya Cafe“, die Baklava, Börek und Semit verkäuft, betreten wir die Hauptschlagader des Brunnenviertels: den Brunnenmarkt. Hier schrumpft die weite Welt auf mehrere Einkaufsstände zusammen.

Mit EsRAP im Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Am syrischen Stand flackert die Fliegenfalle, eine Georgierin verkauft leuchtende Katzen-Shirts und der Libanese bäckt frisches Tandoori-Fladenbrot wahlweise mit Hummus oder Nutella. Dazwischen der Vorarlberger Käsestand und der Würstler „A Hasse und a Zipfer’l“. Ihre Kunden: Frauen mit Kopftuch, dürre Hipster und pinkbehaarte Pensionistinnen mit Seidenstrümpfen unter den Sandalen.

Hier haben EsRAP ihre Kindheit verbracht. Hier haben sie im Jahr 2008 ihr erstes Musikvideo gedreht („Ausländer mit Vergnügen“). Hier kaufen sie ein, wenn gegen 17 Uhr die Waren ermäßigt werden.

FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

Zeit für ein Resümee: Wäre das Brunnenviertel ein Musikstück, wie würde es klingen? „Etwas HipHop, ein bisschen Arabeske, ein bisschen Wiener Lied“, sagt Enes. „Und dann kommen die Kinder und rappen laut dazu“, meint Esra. Und wer den konkreten Sound von „Tschuschistan“ erfahren möchte, hört sich EsRAPs neues Album.

FM4 Im Viertel - Mit EsRAP durch das Brunnenviertel

Florian Wörgötter

In zwei Wochen erscheint Episode 3 von FM4 Im Viertel: HipHop-Produzent Brenk Sinatra zeigt uns sein Kaisermühlen.

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