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„Pop wird nie alt sein“: Das 10. Wiener Popfest ist eröffnet

Der erste Abend am Wiener Popfest 2019 mit Auftritten von Ebow, Wurst, Clara Luzia und vielen mehr. Der Diskurs über Pop und Gesellschaft hat wieder begonnen.

Von Lisa Schneider

Dem Pop ist die Wiederholung inhärent. Dem Wiener Popfest, das heuer zum zehnten Mal am und rund um den Wiener Karlsplatz stattfindet, nicht so sehr. „Pop wird nie alt sein“, schreiben die beiden heurigen Kuratorinnen Mira Lu Kovacs und Jasmin Hafedh in ihrem Statement: Die Stadt wie sie pumpt und blüht, in all ihren musikalischen Facetten. „Ein Schaukasten der österreichischen Musikszene“, wie Clara Luzia es so schön im Vorab-Interview formuliert, oder „ein Ort, an dem Leute mein Konzert besuchen, die sonst wohl nie kommen würden“, wie Wurst, vormals Conchita Wurst, es ausdrückt.

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Wie das Popfest wächst und wächst

Um gleich bei Clara Luzia zu bleiben: Wer soll das Popfest besser definieren können als sie? Sie war die allererste Künstlerin, die damals am 2010 neugegründeten Popfest die Seebühne vor der Karlskirche eröffnet hat. „Die Bühne war noch kleiner, damals. Und ich hätte mir nicht gedacht, dass es das Popfest so lange geben wird, oder, dass es einmal so groß sein wird.“

Es ist mittlerweile sehr groß, vor und in gesamt acht Bühnen und Locations feiern von Donnerstag bis Sonntag an die 60.000 Menschen. Und Clara Luzia, die sich zwar gefreut hat, auch heuer im Line-Up zu stehen, war gleichzeitig ein bisschen verwundert: immerhin ist sie per definitionem keine Newcomerin mehr. Das ist aber nur eine der vielen Botschaften, die das Popfest zwischen den Zeilen schickt: neben „Newcomer“ steht da „erfahren“ oder „renommiert“. Clara Luzia ist eine der zentralen Personen der jüngeren österreichischen Popmusikgeschichte. Nicht umsonst stehen hunderte Menschen in der Schlange, wartend auf den Einlass ins Atrium des Wien Museums, in dem sie ein rares Soloset - nur mit Gitarre und Looping-Station ausgestattet - spielt.

Clara Luzias Bescheidenheit jedenfalls kommt in ihrem Auftritt zum Ausdruck: die Musikerin, die sonst das Back-Up ihrer hervorragenden Liveband gewohnt ist, sitzt hier, im Scheinwerferlicht, unprätentiös und wirkt fast ein bisschen nervös.

Auch, wenn die Songs ihres aktuellen Albums „When I Take Your Hand“ nicht mehr wie früher rein auf der Gitarre entstanden sind, ist gerade so, in diesem privaten Setting, die Quintessenz ihrer Musik am besten spürbar: Das gute Schaudern, das bei so einem face-to-face Konzert den Rücken hinunterläuft; die Worte, die man plötzlich viel besser versteht, die klar und laut von Leuten, die man mal liebenswert fand, aber auch von Wut und Selbstzweifel erzählen. Von den Momenten, in denen man lieber Kind geblieben wäre, wie etwa beim Song „Peter Pan“. Clara Luzia ist eine der sympathischsten, einnehmendsten und ja, besten Songschreiberinnen Österreichs. Und das nicht nur deshalb, weil sie sich selbst nicht dafür hält.

„Who’s that bitch?“

Währenddessen kracht es draußen auf der Seebühne gehörig, so, wie es am Eröffnungsabend sein muss. Ebow ist angereist, mit Crew, Beats und Style, um hier gehörig aufzuräumen. Mit ihr auf Festival-Tour sind seit Wochen zwei weibliche DJs des Kollektivs Bad&Boujee, die später am Abend noch im Heuer aufgelegt haben.

Die Wahlwienerin mit Münchner Wurzeln, die parallel zur Musikkarriere gerade an der TU Wien Architektur studiert, hat im heurigen März ihr neues Album „K4L“ veröffentlicht. Die Abkürzung steht für „Kanak for life“. Gnadenlos ehrlich in Auftreten, Livestyle und Aussage: kein Blatt vor dem Mund und alle Finger am Drücker. Die große Schnauze, das ganze Gras, Dope, das „Fick dich“ steht ihr gut. Wer rassistische und vor allem sexistische Erfahrungen gesammelt hat, tut gut daran, sie ins Gegenteil zu kehren und ironiegespickt an alle Hater auszuteilen.

Nicht selten steht im Rap ein überrepräsentiertes Ego im Vordergrund, Ebow mag und braucht das nicht. Ihre neuen Songs drehen sich um ihre Community, ihre Freunde, ihre Familie und um das Publikum als erweiterter Arm derselben. Die Sprechchöre in den ersten Reihen vor der großen Seebühne („Schmeck mein Blut!“) geben ihr Recht: Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, ist im besten Fall die Hauptintention von all dem hier, egal, um welches Genre es sich handelt. „Zu viele weiße, reiche Jungs im Rap“, zumindest hier, am Popfest, ein wichtiges, aber zu widerlegendes Statement.

So süß wie Katzenbabies, so sauer wie Essig

Wut und Frust sind auch die Antriebskräfte der Musik von Kerosin95, die am gut warm gespielten Abend im Wien Museum auf der „Hall Of Fame“-Bühne auftritt. Aber nicht nur. Rap für Herz und Hirn, mit Verstand und fürs Bauchgefühl, für die, die selbst vielleicht (noch) keine Worte finden. So ist es Kathrin Kolleritsch, die hinter dem Projekt Kerosin95 steckt, lange Zeit gegangen. Ihre musikalische Karriere reicht schon einige Jahre zurück. Schlagzeug hat die gebürtige Steirerin eigentlich schon immer gespielt, später dann in der Singer/Songwriter-Formation Kaiko.

„Hiphop und Rap war etwas, das schon immer in mir gesteckt ist, nur war ich nie sicher, ob ich gut genug bin, deutsche Texte zu schreiben“, erzählt sie im FM4-Interview. Vielleicht hat ihr der Hype um ihre andere Band, My Ugly Clementine, den notwendigen Boost verschafft, jedenfalls hat sie vor wenigen Monaten ihre erste Solo-Single „Außen hart innen flauschig“ veröffentlicht. Deutsche Texte jetzt also doch, dazu der gute, schwere Beat, außerdem queer und oldschool-ig. So, wie Kathrin Kolleritsch Hiphop eben auch selbst am liebsten mag. Fürs Popfest hat sie ein ambitioniertes Liveset zusammengestellt: Mit ihr auf der Bühne stehen Max Plattner am Schlagzeug, Oliver alias Olinclusive an den Decks und Nastasja Ronck an den Synths und der Gitarre. Weil jede Hiphop-Show mit einer Live-Rhythm-Section auch einfach die bessere Hiphop-Show ist.

Von Band zu Band, von Bühne zu Bühne. Klug, dass sich die Musikerin mit Kerosin95 eine Art Kunstfigur geschaffen hat, in die sie, wie sie erzählt, „immer so viel von Kathrin hineinstecken kann, wie ich will – keiner wird je wirklich wissen, was wahr ist – und was erfunden“. Die besten Geschichten schreiben sich hinter dem Vorhang: Geheimnisse sind etwas Gutes.

Und wer könnte vom Perspektivenwechsel, vom Rollenschlüpfen besser erzählen als die Headlinerin des ersten Popfest-Abends - Wurst.

Die Kunstfigur, die alles prägt

Schon bei der heurigen Gala der Amadeus-Awards im Wiener Volkstheater gab es einen Vorgeschmack seiner Neuverwandlung zu sehen – der Mann, den sie Conchita nannten, heißt jetzt eben Wurst. „Viele haben mich gefragt, ob ich blöd bin, jetzt meinen Namen zu ändern, weil es doch gerade so gut läuft“, schmunzelt WURST im FM4-Interview. Dabei ist Kunst, wenn sie lebendig ist, immer in Veränderung. Und im besten Fall immer der Veränderung, die man sich selbst wünscht: in Wursts Fall jetzt kantiger, härter, elektronischer. Keine langen Roben mehr, keine langhaarigen Perücken oder schmalzige Schmusesongs.

Wie Beyoncé“, lacht Wurst im Interview, veröffentlicht er gerade eine neue Single nach der anderen, ohne ein großes Statement dazu abzugeben. Das sind wir so nicht gewohnt. Conchita hatte in den letzten zwölf Monaten eine umfassende Medienpräsenz genossen, und hatte vor allem zu jedem Thema eine Meinung, zu jeder Story einen Song. Die hat er jetzt natürlich weiterhin, nur sind wir da wieder bei den guten Geheimnissen. Im Pop findet man sich dann wieder, wenn die Andeutungen stärker sind als die eindeutigen Statements zur Person. Wenn Spielraum für die eigenen Gedanken bleibt.

Popfest-Tipps aus der FM4-Redaktion

Lylit, die vor Wurst auf der Seebühne auftritt, ist einmal mehr für die Lyrics des kommenden Wurst-Albums verantwortlich. Die Frau mit dem fantastischen, absoluten Gehör, die den Groove im Blut und den besten Hut des Popfests am Kopf trägt und die gestern auf der Seebühne auch ihre neue musikalische Freiheit feierte.

Bei den neuen Songs ist Wurst aber nicht mehr nur Interpretin. Die Geschichten am neuen Wurst-Album stammen von der performenden Künstlerin selbst. Sie gibt ihr Leben wieder, schön und hässlich, trivial und dann wieder gleich der Diva, die sie nunmal ist.

Und auch ohne Kostümwechsel sieht man bei diesem ersten Headliner-Auftritt auf der Seebühne das, was das Popfest in all seinen Facetten verkörpert: Diversität. Natürlich hat uns Conchita 2014 „diesen Schas gewonnen“ - den Eurovision Songcontest. Und immer noch, auch gestern Abend, geht es bei seinem Auftritt nicht vorrangig um die Musik. Dafür ist die zwar sehr gute, aber auch zu eng an Las-Vegas-Showeinlagen erinnerende Band ein zu überdeutliches Zeichen.

Es geht vielmehr um den medialen Aufruhr, den schon die Frau mit Bart hervorgerufen hat. Deren Message sich nicht nur durch Österreich, sondern durch die ganze Welt zieht. Daran ändert auch ein Namenswechsel nichts.

Hier, im Popfest-Ambiente, trifft man durchwegs Menschen, die das gleichgesinnt für eine gute und wichtige Sache halten. Zu schnell vergisst man dabei, dass es außerhalb der Bubble, in der wir uns natürlich auch hier bewegen, sehr viele Menschen gibt, die das nicht so sehen. Es ist eben nicht überall Popfest.

Erst kürzlich hat Mavi Phoenix, die letztes Jahr die Seebühne am Popfest eröffnet hat, mit ihrem neuen Video „bullet in my heart“ auf Gender-Dysphoria und ihren Umgang damit aufmerksam gemacht. Nicht, dass Conchita Wurst 2014 diese awareness erst losgetreten, oder gar Mavi Phoenix zu ihrem Schritt veranlasst hat.

Aber Conchita Wurst wie auch Wurst sind aus besagter, konformer, linker Bubble hinausgetreten und haben ihr Statement gesetzt, setzen es noch. Damit ist eine im österreichischen Pop eine einzigartige Figur geschaffen worden, die eine nicht zu unterschätzende Auswirkung auf die nationale und internationale Medienlandschaft hat. Und zusätzlich - und viel wichtiger noch - auf die Gesellschaft als Ganzes.

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