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Sylvie Goulard hebt die Hand vor ihr Gesicht

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Erich Moechel

Künftige EU-Kommissare mit Digitalagenden unter Druck

Bei den Hearings der Kandidaten im EU-Parlament wurden zwei Liberale und eine Sozialdemokratin von der EVP-Fraktion schwer ins Gebet genommen. Französische Medien sehen darin ein Revanchefoul an Emmanuel Macron.

Von Erich Moechel

Mit Margrethe Vestager (Dänemark, Liberale) geht am Dienstag die erste Runde von Hearings der neuen Kommission im EU-Parlament zu Ende. Allgemein wird ein Heimspiel für die ehemalige Wettbewerbskommissarin erwartet. Auch als Vizepräsidentin der Kommission wird Vestager für Wettbewerb verantwortlich sein, zudem soll sie die gesamte digitale EU-Strategie koordinieren.

Das Gros der digitalen Agenden ist im Bereich Binnenmarkt angesiedelt und da kommt Vestager womöglich die designierte Kommissarin abhanden. Sylvie Goulard (Liberale, FR) war bei ihrer Anhörung am Mittwoch schwer in Bedrängnis geraten. Auch die für das Innenressort und damit für die grenzüberschreitende Überwachungsagenda oder Gesichtserkennung vorgesehene Ylva Johansson (Sozialdemokraten, SWE) wird schriftliche Erklärungen nachreichen müssen.

EU-Kommission Hearing

Twitter

Der offizielle Twitteraccount der EVP fragt hier direkt, ob Goulards Engagement bei dem Immobilieninvestor mit dessen Einflussnahme auf bestimmte, die Immobilienbranche betreffenden EU-Regelungen verbunden war. Diese Passage ist ziemlich typisch für die Stimmung während der gesamten Befragung.

Konservative gegen Liberale

Noch in der vergangenen Woche hatte es danach ausgesehen, als hätte Goulard alle Vorwürfe bereinigen können.

In erster Linie gingen die Abgeordneten der konservativen Fraktion (EVP) mit Goulard hart ins Gericht. Die hatte während ihrer Zeit als EU-Parlamentarierin (2009-2016) einen hochdotierten Nebenjob bei einem deutsch-amerikanischen Immobilieninvestor angenommen. Dazu kamen Vorwürfe, Goulard hätte während dieser Zeit einen durch EU-Gelder finanzierten Assistenten für Parteiarbeit in Frankreich abgestellt. Das hatte 2017 zum Rücktritt Goulards als französischer Verteidigungsministerin und zur Rückzahlung von rund 50.000 Euro geführt.

Diese Angelegenheit war also eigentlich schon geklärt, doch die EVP-Fraktion war damit offenbar nicht zufrieden. „Der Posten einer EU-Kommissarin ist nicht irgendein beliebiger Job, bei dem die Optik egal ist. Für eine Position als Chef dreier (!) Direktorate der Kommission, spielt die Optik allerdings sehr wohl eine Rolle“, hieß es auf dem offiziellen EVP-Account bei Twitter dazu. Zusätzlich zum Binnenmarktressort soll Goulard nämlich auch die neue Abteilung „Raumfahrt und Verteidigung“ übernehmen. Das hatte der französische Präsident Emmanuel Macron mit seinen Interventionen nach den EU-Wahlen für seine enge Vertraute durchgesetzt.

Sylvie Goulard

APA/AFP/Kenzo TRIBOUILLARD

Das anfängliche Lächeln war Madame Goulard schon bald nach Beginn des ausgedehnten Hearings vergangen.

Revanchefoul an Macron

Hauptaufgabe Goulards wird der „Digital Services Act“, der die E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 modernisieren soll.

Damit hatte Macron auch das neue Spitzenkandidatenprinzip gekippt, das von den Fraktionen im Parlament gemeinsam entwickelt worden war. EVP-Fraktionsführer Manfred Weber (Deutschland, CDU) wurde deshalb vorzeitig aus dem Rennen um die Kommissionspräsidentschaft geworfen. Für Goulards Schwierigkeiten, die zu einer weiteren Vorladung in den Parlamentsausschuss oder auch zu ihrer Ablehnung führen könnten, waren also längst nicht nur ethische Gründe ausschlaggebend. Französische Medien gehen ganz offen von einem Revanchefoul der Konservativen an Macron aus.

Die Liberalen hatten zudem mit der sozialdemokratischen Fraktion auch dafür gestimmt, den ungarischen EVP-Kandidaten wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten erst gar nicht antreten zu lassen, was auch geschah. Am Dienstag war die für das Innenressort vorgesehene schwedische Sozialdemokratin Ylva Johansson ähnlich hart „gegrillt“ worden wie tags danach Goulard. Auch hier zeigte sich dasselbe Bild. Johansson, die das einflussreiche Innenressort übernehmen soll, wurde ebenfalls vorwiegend von Abgeordneten der EVP, aber auch von den rechten Fraktionen hart befragt.

Die nächste Wackelkandidatin

Obwohl sie vom grenzüberschreitenden Datenzugriff angefangen für die umstrittensten digitalen EU-Vorhaben auf Behördenebene zuständig ist, wurde sie fast nur zu Flüchtlingen und Migration befragt. „Ich bin nicht der Meinung, dass bloße Seenotrettung neue Migrantenanströme anziehen wird“ - mit dieser Antwort auf eine Frage eines nationalkonservativen Abgeordneten der ECR-Fraktion löste Johansson weitere solche Fragen aus. Etwa ob NGOs mit Schlepperbanden kollaborieren, Johansson verneinte dies.

Ylva Johansson

APA/AFP/Kenzo TRIBOUILLARD

Dieser skeptische Blick von Ylva Johansson war typisch für den Verlauf der gesamten Anhörung.

Die EVP-Fraktion konzentrierte sich hingegen auf den künftigen Aufgabenbereich der inneren Sicherheit, und da erwies sich Johansson - die bis vor kurzem Arbeitsministerin in Schweden war - als nicht besonders sattelfest. Auf die Frage nach ihrer Position im Bereich automatische Gesichtserkennung musste sie sogar völlig passen und versprach zu allen offenen Punkten schriftliche Antworten nachzureichen. Daraufhin wurde sie von einem Abgeordneten der EVP als „Nachreichkommissarin“ tituliert.

Ein dritter Kommissar unter Druck

Justizkommissar in spe Didier Reynders (Liberale, BE) wurde am Mittwoch mit überraschend vielen Fragen zum Komplex „Künstliche Intelligenz“ bombardiert, bei dem eigentlich seine Kollegin Sylvie Goulard federführend ist. Darauf war Reynders offenbar wenig vorbereitet, schon eher darauf, dass die Anzeige eines belgischen Ex-Geheimdienstmanns aus Belgien, die vierzehn Tage vor dem Hearing wieder auf den Tisch kam.

Didier Reynders

APA/AFP/Aris Oikonomou

Didier Reynders

Die Staatsanwaltschaft in Brüssel hatte die Anzeige gegen Reynders, den ehemaligen Außenminister Belgiens, allerdings wenige Tage vor dem Hearing wegen Substanzlosigkeit ad acta gelegt. Am Tag der Anhörung wurde von derselben Person jedoch eine neue Anzeige in Belgien erstattet, in der Reynders erneut beschuldigt wird, Kopf einer Schmiergeld-Mafia gewesen zu sein, die auch vor Morddrohungen nicht zurückschreckte.

Ausblick auf Dienstag

Zwei der drei am härtesten gegrillten Kandidaten gehören der liberalen Fraktion (ehemals ALDE) an, die jetzt „Europa erneuern“ (Renew Europe) heißt. Auch die designierte Vizepräsidentin Margrethe Verstager ist eine Liberale, sie ist nach ihrer ersten Amtszeit allerdings hoch angesehen. Seit ihrem Vorgehen mit Rekordstrafen gegen die großen Internetkonzerne wird Vestager in Brüssel als der „Schrecken von Silicon Valley“ tituliert.

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