FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

"Joker" Filmstill

Nico Tavernise

Wenn das Grinsen grausam gefriert: Die rabenschwarze Charakterstudie „Joker“

Standing Ovations bei den Filmfestspielen von Venedig. Hitzige Diskussionen im Netz. „Joker“ portraitiert den Comic-Bösewicht auf kontroverse Weise, mit Referenzen zum New Hollywood Kino der 70er.

Von Christian Fuchs

„Die Einsamkeit verfolgt mich mein ganzes Leben“, notiert Robert De Niro als Taxifahrer Travis Bickle in sein Tagebuch. „Ganz egal, wo ich hingehe, überall jagt sie mich: in Bars, im Auto, in Coffee Shops, Kinos, Geschäften, bei Spaziergängen. Es gibt kein Entkommen davor. Ich bin Gottes einsamster Mann“.

Taxi Driver“ von Martin Scorsese, veröffentlicht 1976, gilt bis heute als eines der eindringlichsten Filmportraits eines Einzelgängers, der langsam in den Wahnsinn abdriftet. „Gods lonely men“ hat Drehbuchautor Paul Schrader den Typus der sozialen Außenseiter genannt, die verloren durch die Nacht treiben. Oder in der Isolation ihrer Wohnungen Rituale des Alleinseins zelebrieren. Dass die Suche des „Taxi Driver“ nach finaler Erlösung in einem Amoklauf mündet, sorgte lange Zeit für Aufregung.

Spätestens als der Attentäter John Hinckley Jr. 1981 einen Anschlag auf den damaligen US-Präsidenten Reagan verübte, angeblich inspiriert von der Figur des Travis Bickle, geriet Scorseses Film wieder in die Schlagzeilen. Eine Diskussion, die fast so alt ist wie das Kino selbst, wurde geführt: Können gewalttätige Filme auch Auslöser realer Verbrechen sein? Oder triggern sie ohnehin nur Täter, die bereits unter schweren psychischen Störungen leiden? Muss sich die Kunst selbst zensurieren, wenn sie solche gefährlichen Themen aufgreift?

Still aus Taxi Driver

Warner

Von der existentiellen Leere aufgefressen

„My mother always tells me to smile and put on a happy face” (Arthur Fleck)

Im Moment geistern anlässlich des Comic-Thrillers „Joker“ wieder ähnliche Fragen im öffentlichen Diskurs herum, vor allem in den USA. Aber die Hintergründe sind ganz andere. In der New Hollywood Ära, als Scorsese und Schrader ihre verstörenden Klassiker drehten, war die Entfremdung der einsamen weißen Männer noch ein relativ unerforschtes Phänomen.

Heutzutage kritzeln sie ihre beklemmenden Gedanken nicht mehr in geheime Notizbücher. Sondern hinterlassen sie ganz offen im Internet. Sie nennen sich Incels, organisieren sich in Communities - und träumen gemeinsam von der Rache an der Gesellschaft. Vor allem Frauen und alles Fremde befinden sich im potentiellen Fadenkreuz.

Still aus Joker

Warner Bros

Regisseur Todd Phillips wehrt sich militant gegen Kritiker, die seine Version des „Joker“ in einen Kontext mit dieser aktuellen Hass-Strömung stellen. Für ihn ist sein Titel-Antiheld, bevor er zu Batmans diabolischem Gegner wird, alles andere als ein geifernder Incel aus den Web-Untiefen.

Phillips, der in allen seinen Filmen maskuline Verhaltensmuster seziert - von der grimmigen Underground-Punk-Doku „Hated“ bis zu den erfolgreichen „Hangover“ Komödien - sieht den Joker als traurigen Clown, als ewigen Verlierer, der sich verzweifelt um Glück bemüht, aber von der existentiellen Leere aufgefressen wird. Einer von „Gods lonely men“, direkt den frühen Meilensteinen von Scorsese und Schrader entliehen. Um diesen Verweis überdeutlich zu machen, lässt Phillips seinen Protagonisten durch die Straßen eines längst vergangenen New Yorks wandeln.

Spektakuläre Verrenkungen und Grimassen

„Eines Tages wird ein schwerer Regen kommen und den ganzen Dreck von den Straßen spülen.“ („Taxi Driver“)

Gotham City Anfang der 80er fühlt sich an wie eine Vorhölle aus Müll, Verfall und wirtschaftlichem Niedergang. Es ist weniger das organisierte Verbrechen, wie in den Batman-Bilderheften, das die Stadt so unerträglich macht. Die reaktionäre Politik hat Gotham scheinbar aufgegeben, die Mittelklasse verarmt, Sozialprogramme werden gestrichen.

Der Joker, Batmans legendärer Comic-Erzfeind, wurde schon den verschiedensten Darstellern gespielt. Cesar Romero machte in der knallbunten Batman-Fernsehserie von 1966 den Anfang, zuletzte grinste Jared Leto im Film „Suicide Squad“ teuflisch.

Dazwischen liegen die berühmt-berüchtigten Leinwand-Darstellungen von Jack Nicholson und Heath Ledger. Jetzt macht aber Joaquin Phoenix all diesen gefeierten Akteuren Konkurrenz, in einem Film, der erstmals detailliert die Ursprungsgeschichte des Jokers erzählt.

Letztere Maßnahme betrifft auch den häufig arbeitslosen Spaßmacher Arthur Fleck, der irgendwann ohne seine essentiellen Psychopharmaka auskommen muss. Joaquin Phoenix spielt den spindeldürren Clown als wandelnde Zeitbombe, die unaufhaltsam tickt. Nur die Liebe zu seiner kränkelnden Mutter (Frances Conroy) und die Begeisterung für einen komödiantischen TV-Talkshow-Host (Robert De Niro) erhalten Arthurs windschiefen Körper halbwegs aufrecht.

„Joker“ ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderer Film. Kein Superhelden-Blockbuster mit obligaten Marathon-Showdown, sondern eine rabenschwarze Charakterstudie, die auf Action fast verzichtet. Die Verrenkungen und Grimassen von Schauspielgott Joaquin Phoenix sind aber ohnehin spektakulärer als sämtliche Spezialeffekte. Sensationell ist auch der Look des Films, der tatsächlich die grindige Atmosphäre des 42nd Street New York auferstehen lässt, der aufwühlende Klassik-meets-Industrial-Soundtrack von ‎Hildur Guðnadóttir, das perfekte Casting.

Still aus Joker

Warner Bros.

Angriffe und Auszeichnungen

„Ich habe lachen wollen wie die anderen; aber dies war unmöglich. Ich habe ein Federmesser mit scharfer Klinge genommen und mir das Fleisch dort aufgeschlitzt, wo sich die Lippen vereinigen.“ (Lautréamont, „Die Gesänge des Maldoror“)

Filmtalk Podcast Bild

Radio FM4

Natalie Brunner und Christian Fuchs unterhalten sich im Film Talk Podcast über die dunkle Charakerstudie im Comic-Mäntelchen, filmische Einflüsse und Fantheorien zum Film.

Während selbst Gegner des Films seine bestechende Form anerkennen, spaltet der Inhalt die Geister. Neben den eingangs erwähnten Befürchtungen, dass „Joker“ die Gedanken asozialer Incels stimulieren könnte, hagelt es auch andere Vorwürfe. Für den „Guardian“ wirken all die Anspielungen auf „Taxi Driver“, „The King of Comedy“ oder auch „Network“ prätentiös.

Michael Moore wiederum, der Veteran des linken Doku-Aktivismus, betrachtet den Film als geniale Satire auf den aktuellen politischen Niedergang Amerikas. Und bei den Filmfestspielen in Venedig gab es nicht nur lange Standing Ovations, sondern auch den Goldenen Löwen für den besten Film.

Dass so viel Interpretationsspielraum möglich ist, liegt auch an der ambivalenten Haltung von Regisseur und Co-Autor Todd Phillips. Maximale Respektlosigkeit sei, so sagt er in Interviews, schon immer die Triebfeder seiner Arbeit gewesen. Und nachdem die Welt im Woke-Zustand für ihn keine provokanten Komödien á la „Hangover“ mehr zulässt, hat sich der Ex-Punk im Mainstream-Gewand eben dem Thriller zugewandt.

Still aus Joker

Warner Bros.

Wer angesichts all dieser und anderer Reflexionen schon eine übersteigerte Erwartungshaltung in Richtung Arthouse hat: „Joker“ ist tatsächlich auch grell-plakatives Comickino, tiefer im Batman-Universum verankert als man glauben möchte. Nur vergisst man mitten im knallbunten Superhelden-Overkill der Gegenwart gerne auf düstere filmische Meisterwerke wie „The Dark Knight“. Gar nicht zu reden von Autoren wie Alan Moore, Grant Morrison oder Frank Miller, deren todernste und zugleich schrecklich komische Comics wohl auch Pate für diesen Film standen. Ja, es wird viel gelacht im „Joker“ und noch öfter gefriert das Grinsen auf grausige Weise.

mehr Film:

Aktuell: