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Helga Schubert in ihrem Garten.

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Helga Schubert gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020

Drei Tage mit voraufgezeichneten Lesungen und Live-Diskussionen über die Texte: Der Bachmannpreis Spezial endet mit den Preisen, die zum Glück gleich geblieben sind. Mit Helga Schubert gewinnt die große Favoritin der Lesetage den Bewerb.

Von Maria Motter

„Vom ersten bis zum letzten Moment habe ich diesen Bewerb verfolgt“, sagt die Ingeborg-Bachmannpreis-Gewinnerin Helga Schubert. „Und war besonders glücklich, dass er diesmal digital verlaufen ist. Können Sie irgendwie den Ton wegnehmen? Ich habe einen Lee-Effekt drinnen, ich höre immerzu eine Verzögerung“. Eine Rückkoppelung im Ton, von der sich Schubert nicht weiter irritieren lässt.

Helga Schubert sitzt im Garten

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Helga Schubert bei der Vorab-Aufzeichnung ihrer Lesung.

In ihrem schönen Text „Vom Aufstehen“ eröffnet sie eine Familiengeschichte, die zugleich eine deutsche Zeitgeschichte ist. Der letzte Satz des Texts lautet: „Alles gut.“ Helga Schubert sagt, sie sei „unheimlich dankbar“, dass sie dabei sein kann, sie pflege ihren Mann und habe den Bewerb mit vielen Freunden geschaut.

Helga Schubert war schon 1980 zum Bachmannbewerb eingeladen gewesen, aber das DDR-Regime ließ sie nicht ausreisen. Es war das Politische, das ihre Teilnahme verhindert hatte. Und jetzt ist es das Private, dass sie bei ihrem Mann sein will und zugleich beim Bachmannpreis dabei sein konnte. Weil der in diesem SARS-CoV-2 bedingten Ausnahmejahr sicherheitshalber dezentral stattfand.

Schon Freitagvormittag bei der Lesung war klar: Hier hört man einer großen Erzählerin zu. Sie habe mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ „uns alle so angerührt“, sagt die Literaturkritikerin Insa Wilke, die Helga Schubert zum Bewerb eingeladen hat. „‚Vom Aufstehen‘ könnte auch ‚Vom Annehmen‘ heißen und würde damit genauso Widerstand bezeichnen. Eine Möglichkeit, sich in der unendlich eisigen Welt, die diese Erzählerin erfahren hat, zu vertrauen“, so Wilke.

„Ich habe gedacht, dass es viel schöner ist, als Autorin mitzumachen denn als Jurorin. Weil ich nämlich überhaupt nicht werten kann, wenn ich andere höre - die tun mir in der Seele leid!“, sagt Helga Schubert als unmittelbare Redaktion auf den Preis. Sie fragt, ob sie noch einen Satz von Ingeborg Bachmann vorlesen soll. Und es wird die Zeit gewährt.

Ein Blick ins Archiv und in die Statistiken, die Kathrin Passig sorgfältig führt, zeigt die Bedeutung des Bewerbs. Wie viele Namen da auftauchen, die heute bekannte Schriftsteller*innen sind.

Alle Lesungen und Jury-Diskussionen zum Nachschauen und -hören gibt es auf bachmannpreis.orf.at.

Die Zeiten, in denen nicht nur Texte vor laufenden Kameras zerlegt wurden, sondern verbal auch gleich deren Autor*innen mit wie einst von Marcel Reich-Ranicki - die sind vorbei. Das hat der Bachmannpreis-Juryvorsitzende Hubert Winkels gestern betont. Diesmal konnte man sich nur knapp des Eindrucks erwehren, dass da „der Neue“ die Jury zerlegen will. „Geschwurbelten Topfen“ hörte man leider an einigen Stellen, mehr Sachlichkeit war eine Wohltat, kleine Vorlesungen von den Juror*innen Kastberger und Wilke brachten wieder Ernsthaftigkeit nach kindischem Hickhack. Die Jurorinnen Nora Gomringer und Neo-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant kamen recht wenig zu Wort.

Die Jury des Bachmannpreises. Alle Jurorinnen und Juroren waren bei sich zuhause.

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Beim „Bachmannpreis Spezial“ sind Fernsehen und Internet verschmolzen. Das Studio war sehr dunkel, doch in den Screens der Live-Streams mit Juror*innen an ihren Arbeitsplätzen und den Autor*innen, die mitunter in drei Bild-Inserts bei ihren voraufgezeichneten Lesungen zu sehen waren, war die Show diesmal dezentral. Der Ton war glasklar und Delays gab’s nur bei der Eröffnung, großartige Arbeit der Technik.

Aber vorab aufgezeichnete Lesungen sind hoffentlich Geschichte. Es braucht die Konzentration des Publikums im Studio in Klagenfurt und vor allem die Live-Präsentation der Autor*innen vor Ort, abgesehen davon, dass Klagenfurt längst ein Synonym für einen Treffpunkt der Buchbranche geworden ist. Auch wenn sich mehr und mehr Agent*innen zwischen Autor*innen und Verlagsleute stemmen. Das ist eine eigene Geschichte. Dank der Stadt Klagenfurt gibt es 25000 Euro als Hauptpreis und damit den Ingeborg-Bachmann-Preis - auch in diesem Jahr, in dem der Bewerb nur den Moderator und die Gartengäste, die sich selbst mit den Muppets-Quälgeistern Statler und Waldorf verglichen, sowie den langjährigen Blogger Wolfgang Tischer nach Klagenfurt führte.

Im großen Finale werden insgesamt fünf Preise verliehen.

Die Signation-Musik des Bewerbs ertönte in den Stichwahlen der Preisverleihung.

Auf der Shortlist für die Preise hat Jörg Piringer eindeutig gefehlt.

Publikumspreis an Lydia Haider

Lydia Haider hat in ihrem Text „Der große Gruß“ eine Gang auf Hunde in Wien losgelassen. Von ihr vorgetragen wird die geschilderte Hetzjagd sehr real. Jetzt wird sie Stadtschreiberin in Klagenfurt. Sie hat den BKS-Bank–Publikumspreis über 7000 Euro gewonnen und bekommt mit dem Stadtschreiberstipendium der Stadt Klagenfurt 6000 Euro.

Lydia Haider nickt und an der Wand hinter ihr hängt ein Schafsfell und aufgepickt sind ein paar 50-Euro-Scheine. Eine „Schöner Wohnen“-Idee einer Liga für sich. Das Schaffell könnte mit nach Klagenfurt.

Viele hatten beim Publikumspreis Hanna Herbst als Gewinnerin vermutet.

Lisa Krusche streamt uns in höchst politische Fragen um die Zukunft der Menschheitsgeschichte

Das Deutschlandradio hat einen eigenen Preis gestiftet über 12.500 Euro und er geht an Lisa Krusche für ihren Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“.

„Gerade in diesem heurigen Jahr stellt sich die Frage: Wo sind wir eigentlich alle? Und ich sage ganz bewusst, hier in Klagenfurt“, sagt Klaus Kastberger. „Lisa Krusche fragt in ihrem Text, wohin dieses Zusammenspiel von virtuell und real führen wird und führt in diese Frage auch eine emminent politische Dimension ein: Könnte, so fragt sie sich, das Virtuelle (...) nicht auch ein Potential haben, zu den realen Problemen beizutragen?“ Kastberger verweist auf die Thesen der feministischen Biologin Donna Harraway. „Macht keine Kinder, sagt diese Frau, sondern macht euch miteinander und anderen Lebewesen in dieser Welt verwandt. Krusche zeigt in ihrem Text, wie das ausschauen könnte.“

Lisa Krusche war im Vorjahr noch Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses - der musste diesmal ausfallen. Nächstes Jahr wird er wieder stattfinden.

Egon Christian Leitner legt die Probleme des Sozialsystems dar.

Egon Christian Leitner erhält den mit 10000 Euro dotierten Kelag-Preis. „Immer im Krieg“ ist der Titel seines Beitrags zum Bachmannbewerb und „immer im Krieg“ mit dem Sozialstaat sind die Figuren darin. Es sind Menschen, die sehr oft gesellschaftlich unbeachtet bis ungeachtet täglich um ihre Existenz kämpfen.

„Wer die österreichische Literatur kennt, weiß, wie schwer es ist, innerhalb der österreichischen Literatur noch eine Ausnahmeerscheinung darzustellen,“ hält Juror Klaus Kastberger fest, der den Grazer Autor und auch Lisa Krusche zum diesjährigen Bewerb geladen hat.

Egon Christian Leitner

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Egon Christian Leitner

Laura Freudenthaler führt auf vergiftetes Land in „Der heißeste Sommer“

Laura Freudenthaler erhält den 3sat-Preis in der Höhe von 7500 Euro für „Der heißeste Sommer“. „Ein Sprachkunstwerk, zeitlos gültig und brand-aktuell,“ würdigt Jurorin Brigitte Schwens-Harrant, die erstmals beim Bachmannbewerb dabei ist und die Laura Freudenthaler zum Wettlesen geladen hatte.

In „Der heißeste Sommer“ von Laura Freudenthaler schwillt mit jedem Umblättern das Unglück an über einem Ort am Land: Eine Mäuseplage, ein Virus bedrohen nicht nur die Ich-Erzählerin, die das Geschehen dokumentiert. Nervengift in die Erde, Explosionen, „aus dem Erdfeuer wird ein Lauffeuer“. Dystopische Zustände sind im Anrollen, aber noch sind Erntehelfer auf den Feldern.

Laura Freudenthaler

ORF Johannes Puch

Laura Freudenthaler

Es sind die Juror*innen, die Autor*innen mit ihren Texten zum Bewerb einladen. Bewerben kann man sich direkt bei den Juror*innen - sobald der nächste Aufruf auf bachmannpreis.orf.at veröffentlicht sein wird.

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