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Blick ins Publikum beim Popfest

Franz Reiterer

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Der Headliner-Begriff wird ad absurdum geführt: der zweite Abend am Popfest 2021

Radikal, politisch, laut: das Popfest macht seiner Geschichte - und der der Wiener Arena - am zweiten Festivalabend alle Ehre. Es ist der musikalisch zerrissenste Tag im heurigen Line-Up, und auch das ist ein gutes Statement. Mit Auftritten von Attwenger und Klitclique bis Fuckhead und Elektro Guzzi.

Von Lisa Schneider

„Uns gefällt die gleiche Radikalität“, sagen die Popfest-Kurator*innen Esra Özmen und Herwig „Fuzzman“ Zamernik über den roten Faden des heurigen Line-Ups. „Wir waschen uns nie, Anarchie!“, schreien sehr gut passend dazu First Fatal Kiss als Eröffnungsact von der großen Open Air Bühne der Arena Wien. Willkommen am zweiten Festivalabend.

Es geht hier, in der Arena Wien, nicht um Schönwetterpop oder Friede-Freude-Eierkuchen-Singalongs, dabei scheint die Sonne noch so hell. Wer den guten Krawall und klare Ansagen möchte, bekommt genau das schon am frühen Abend. Rapper Kid Pex hatte in den letzten Monaten bzw. Jahren zwar nicht viel Zeit zum Musikmachen (seine Hilfsorganisation SOS Balkanroute hat den Großteil seiner Zeit beansprucht). Aber er hatte immerhin ein bisschen Zeit, Andreas Gabalier und seinen Anwälten gezielt auf die Nerven zu gehen, einige Songs zu releasen und eben hier am Popfest aufzutreten. Er erntet den ersten großen Publikumschor des Abends: „Antifaschista“ tönts über den Hügel hinauf.

Kid Pex holt sich Support auf die Bühne. Die Wiener Rapperin Gazal und er bündeln hier wie schon am ersten Abend die neue Genre-Generation rund um T-Ser, Slav & Co das, was das Wiener Popfest und gleichzeitig die besten Hip-Hop-Live-Auftritte ausmacht: die vielfältige Szene und all die guten Musikmenschen, die man, so man will, um sich scharen kann. Die Crew, die Familie, der selbstausgesuchte Lebensmittelpunkt. Wien oida, bleib so leiwand / bleib so stark / Wien oida, bist mei Leben, bist mei Stadt. Auch Esra Özmen herself gibt sich dann für ein Live-Feature die Ehre, alles gegen Nazis, das Herz der Arena Wien glüht und pumpt.

Der Freitagabend ist der schrägste im gesamt wagemutig guten Programm des heurigen Popfests. Anecken und Auftrumpfen und Lautsein, und das über alle Genregrenzen hinweg, das waren schon immer die Maxime. Den Begriff „Headliner“ aber so elegant zu umschiffen, das schaffen Esra Özmen und Herwig Zamernik heuer zum ersten Mal. Kein Crowdpleasing gestern Abend, und auch das ist ein wichtiges Statement.

Da spielen die Mundart-Rap-Urgesteine und besten Quetschenliebhaber Attwenger halt schon um 18.20 auf der großen Bühne. Und das mit über 30 Bandjahren am Buckel und den schönsten Wortumkehrungen, die das Englisch-Deutsche in die weite Welt hinaus verlassen hat. Blues, Beats, bisschen Blech. „Pop heißt Oper, Polka Punk“, ergänzen Attwenger im FM4-Interview. Vor 31 Jahren haben Attwenger hier, in der Arena Wien, ihr allererstes Konzert gespielt. Und jetzt sieht man da teilweise Eltern, die damals dabei waren, beim heurigen Popfest mit ihren Kindern vor der Bühne tanzen. Von Sibirien bis Zimbabwe haben Attwenger so gut wie jeden Zipfel der Erde bespielt, das sind Vollprofis, die das Wort „Soundcheck“ gelassen belächeln. Die Herausforderung suchen sie sich woanders: „Es war oft spannender, vor Leuten zu spielen, die dich nicht kennen“. Die würden nämlich dann genauso spüren, auch wenn sie kein Wort verstehen, dass es in diesen Liedern um etwas geht. Das ist vielleicht eine der schönsten Pop-Definitionen, der Antrieb von Attwenger war immer die Rebellion.

Musik als neue Zufallsbekanntschaft, das war der Spirit am früheren Popfest-Austragungsort Karlsplatz. Vorbeispazieren, vielleicht gar nicht wissend, dass da überhaupt ein Festival stattfindet. Das hat sich mit der neuen Location in der Arena Wien natürlich verändert. Die Spaziergängerquote in Erdberg ist eher gering. Menschen fahren viel mehr hierher, um sich ganz bestimmte Acts anzusehen. Das Publikum ist am Freitagabend älter oder zumindest erwachsen, ganz im Gegensatz zum Eröffnungstag. Es ist zu großen Teilen mit Bands wie Attwenger auf- und mitgewachsen, es fährt dahin, wo die Lieblingsband spielt. Auch die beiden Musiker nehmen den change of scenery gelassen, beziehungsweise, wie zu erwarten war, sehr reflektiert: „Sama do ned am Karlsplatz, do?“, fragen Markus Binder und Hans-Peter Falkner von der Bühne. Nein, Arena. „Eh besser, endlich amal wo, wos ned noch am alten Mann benannt ist. Autonomie!“

„So schnö kaunst gor ned Frau’n“: das ist die Line, mit der Klitclique Attwenger an die Wand klatschen würden. Die beiden Rapperinnen kommen aus der Wiener Kunst- aber für heute viel wichtiger aus der Wiener Battle-Rap-Szene. Es gibt kein großes, antikapitalistisches, feministisches Schauspiel (inklusive Schauspielkünste!) wie sonst. G-udit und $chwanger haben ihren gestrigen Auftritt auf Text, düsteren Blick und Autotune heruntergebrochen. Das Ernstmeinen und Schmähführen, all die Marias und schnellen Autos, die Quietschlaute und das dunkle Murmeln verwischen Klitclique im Interview und auf der Bühne. Zwischen den knallharten, gesellschaftskritischen Ansagen blitzt selten, aber doch, Unsicherheit hervor. Es geht nicht nur darum, wie gut im Rap und wie schlecht im Bett man ist, sondern auch um die prekäre Lage (Bildender) Künstler*innen. Es ist immer schön zu erfahren, dass auch gute Großmäuler allzu gut bekannte Sorgen haben. Bloß, man hätte sich gewünscht, es hätte wie sonst bei Klitclique ein bisschen mehr weh getan.

Haltung und Statement gibt’s natürlich auch in der zweiten Location des heurigen Popfests in der Arena, der Kleinen Halle. Hier bestätigt sich einmal mehr, dass die kleinen Türen sich nicht selten zu den größten, dichtesten Klangwelten öffnen. „Zu schmusig!“ sag’ ich noch vor ein paar Tagen zu meinem Kollegen Christoph Sepin, der Manic Youth ins FM4-Musikabteil für die härteren Töne, das House Of Pain, eingeladen hat. „Nicht immer!“ sagt Christoph, er soll Recht behalten.

Im schön tropischen Klima des abgedunkelten Raums schlagen einem die Walls Of Sound entgegen, das Haar wird geschüttelt und endlich, endlich perlt der Schweiß. Es sind Menschen anwesend, die Band-T-Shirts von Bands wie My Bloody Valentine oder sogar Nine Inch Nails tragen. Na gut, so hart wird’s dann aber doch wieder nicht: dafür bauen Manic Youth ihren schon oft verwaschen-verträumten Pop zu nah an der Schwelle schöne Melodie. Das passt aber sehr gut so.

Das Gitarrengewitter darf bleiben: das Trio Kinky Muppet hat sicher gern Sonic Youth gehört, ebenso wie die darauffolgende Band Bosna. Im sehr vertrackten, zerwürfelten Line-Up des gestrigen Abends der vielleicht einzig smoothe Übergang, bei dem einem nicht die Ohren flattern. Bosna spielen live als Duo (an den Drums gestern Abend Dora de Goederen, die sonst auch bei DIVES oder Шaпκa (Schapka) spielt) ihren noisig-jazzigen Postpunk. Es ist auf die beste Art hypnotisch. Saite schlüpft in Saite und Wort in Wort.

In diesem Genre, in dem uns in der Vergangenheit meist weiße Hetero-Männer von ihrer Unlust an Liebe und Leben vorgesungen haben, tauchen wir mit Bosna endlich in neue Erfahrungen und Lebensrealitäten ein. Das sind Geschichten über queere Beziehungen, Homophobie, über Rassismus und Ausgrenzung. Der Titel zum aktuellen Album „You Know Too Much“ ist ironisch gemeint, erzählt Schreiber, Sänger und Gitarrist Pete Prison IV. Er bezieht sich auf die Menschen, die sich ungefragt den meisten Platz im Gespräch, in der Musik, überhaupt, in der Welt einräumen. „Ich find’s schön, dass es heuer ein diverseres Line-Up gibt, dass jetzt nicht nur weiße Personen auf der Bühne stehen, oder nur Heteropersonen, auch viele Frauen* - super, dass darauf geachtet worden ist“, sagt Pete Prison IV. Das Popfest war und ist ein Stimmengeber.

Und diese Stimmen haben Herwig Zamernik und Esra Özmen aus ihrer eigenen musikalischen Vergangenheit und somit aus allen (Musik-)Ecken des Landes zusammengepflückt. Der Fuzzman zum Beispiel ist ja ein alter Metal-Head, und dazu gibt es ein schönes Popfest-Pressestatement, das jeder auf dem Land aufgewachsene Mensch nachvollziehen können wird: „Das war die Art von Revolte, wenn man am Land aufwächst. Man hört das Ärgste, was man findet“. Und zelebriert das, gestern, viele Jahre später, mit vielen langhaarigen Menschen beim Auftritt der langgedienten Drauf- und Zerschmeißer Schirenc Plays Pungent Stench. Wien ist die Stadt des Popfests, der Popfest-Musik und nicht weniger die Stadt, die sich viele wegen ihrer Diversität als neues Zuhause ausgesucht haben.

Esra Özmen hat Kid Pex live auf der Bühne unterstützt, auch Herwig Zamernik wird seinen Auftritt abseits von Bühnenansagen bekommen: das letzte Album von Lydia Haiders Wutpredigt-Gruppe Gebenedeit hat er produziert, er ist auch im Live-Chor beim gestrigen Auftritt dabei. Die Stimmung ist insgesamt schon ein bisschen seltsam zu diesem Zeitpunkt, an dem sonst der Co-Headliner alles und alle für das große Abschlussset aufheizt. Es knistert zwar, aber auf andere Weise. Blitz und Donner kommen in dieser lauen Sommernacht nicht von oben, sondern aus der Horizontale: die Bühne sprüht und Lydia Haider speit. Das ist die Art von Musik, die sich Kinder zu Bildern des Fegefeuers vorstellen. Hässliche Dinge bekommen hier endlich hässliche Namen. Läuterung sieht zwar anders aus, ist aber auch nicht das Ziel dieser Predigten. Es ist ein Festhalten an Konzept und Kunstrolle, bis die totale Überspitzung das macht, was auch Satire immer schon getan hat, den Finger in die Wunde legen.

Ein bisschen avantgardistisch-aktivistisch Angehauchtes ist dann noch drin am Freitagabend. Vielleicht hat man erst gelebt, wenn sich die drei Industrial-Performancekünstler rund um die ganzkörpertätowierte Strahlefigur Didi Bruckmayr direkt vor einem im Backstagebereich nackt ausgezogen haben (wenn ja: I’m gonna live forever). Fuckhead sind mit Partyhüten, dünn-durchsichtigen, engsten Höschen und sonst nichts außer einer Wut, dass es eine Freude ist, die kompromisslosesten Bühnenabreißer des Abends. Verlässt man aber den Raum ohne vorherigen Körperkontakt, sogar ohne Bier- oder diverse Körperflüssigkeitsspritzer an der Kleidung, merkt man, was uns Corona eigentlich an Fuckhead-Full-Body-Experience genommen hat.

Die Rede ist oft davon, wie sehr die Menschen Livemusik brauchen, und natürlich ist es für die Musiker*innen genauso. Elektro Guzzi als letzter auftretender Act am Freitagabend auf der großen Open-Air-Bühne haben dazu ihre ganz eigene musikalische Geschichte geschrieben: das neue, aktuelle Album „Trip“ war eigentlich schon fertig. Entstanden in den jeweiligen Wohnräumen der drei Mitglieder, so wie es eben der Arbeitsrhythmus der letzten, verhangenen Monate war. Das hat sich aber falsch angefühlt und deshalb ging’s, obwohl alles fertig war, doch noch einmal zurück ins Studio um alles neu, und diesmal live, aufzunehmen. Genauso ist auch der gestrige Auftritt zu verstehen: das ist eine Band, die aus dem Livespielen ihre Kunst macht, und nicht umgekehrt.

Kämpft man sich sanft durch die tanzende Meute, während der Bass von der Zungen- bis in die Zehenspitze fährt, und die Energiewellen vom Publikum auf die Bühne und von da in improvisierten, technoiden Sounds wieder zurückkehren, denkt man sich: Ja, so geht das, an einem guten Konzertabend.

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