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Fotos vom Elevate-Festival 2021 - Anna von Hauswolff an der Orgel

Johanna Lamprecht

Tiefenentspannt Richtung Weltuntergang: Das Elevate Festival hat begonnen

Zwischen bildender Kunst, politischem Diskurs und Ambient-Musik startete das Grazer Elevate Festival. Für Pessimismus ist es zwar zu spät, aber zum Auftakt machten Künstler*innen wie Anna von Hausswolff, Zanshin oder Brian Eno mit einem High-Tech-Spa die Gegenwart gemäß dem Festivalmotto zum „Momentum“.

Von Katharina Seidler

Das Tagesprogramm des Elevate Festivals 2021 startet tiefenentspannt. Im Grazer Dom im Berg, wo einen bei früheren Festivalausgaben des Elevate die Bässe der Mainstage durch die Nacht trugen, hat in diesem Jahr der britische Musik-Gott Brian Eno die Klang- und Licht-Installation „77 Million Paintings“ aufgebaut. 300 von ihm selbst gemalte, digitalisierte Bilder verändern sich auf Bildschirmen in magischer Super-Zeitlupe, während die sanftesten Klänge der Welt die Berghöhle in eine Art Hi-Tech-Spa verwandeln. Zwischen den weißen, schnurgeraden Stämmen einzelner Birken bekommt man im Zauberwald dieser sich beständig wandelnden, automatisch generierten Installation die Gelegenheit, im Dämmerschlaf auf den Sofas das Außen auf Abstand zu halten.

Brian Enos  Klang- und Licht-Installation „77 Million Paintings“

Clara Wildberger

Dies ist auch dringend notwendig, auch wenn das Elevate Festival auf alles andere als Eskapismus als Exit-Strategie setzt. Erst bei der großen Eröffnungsgala am Mittwochabend im Next Liberty Jugendtheater hat der Historiker und Autor Philipp Blom in seiner Rede zum Festivalthema „Momentum“ reale Zahlen und konkrete Handlungsmöglichkeiten aufs Tapet gebracht. Innerhalb einer einzigen Minute schmelzen derzeit eine Million Tonnen Grönlandeis und es werden 30 Fußballfelder Regenwald vernichtet. Es werden Schürfrechte auf dem Mars verhandelt, während auf der Erde der Golfstrom kippt. „Wie geht eigentlich Zukunft?“, der Untertitel von Bloms so brillanter wie erschütternder Rede, kann in jeder Hinsicht nur beantwortet werden mit: So nicht.

Fotos vom Elevate-Festival 2021 - Philipp Blom am Rednerpult

Johanna Lamprecht

Philipp Blom

Wer dennoch ein wenig Hoffnung schöpfen will, richte seinen Blick auf Lichtgestalten wie Greta Thunberg, die die Gespräche über den Klimawandel bis an die Mittagstische von Familien auf der ganzen Welt verändert hat. Philipp Bloms dringender Appell, mit dem biblischen Missverständnis des Satzes Macht euch die Erde Untertan endgültig aufzuräumen und die Rolle des Menschen als Herren der Schöpfung radikal umzudenken, hallt in den Besucher*innen des Festivals noch lange nach.

Auf den beiden Faktoren Hall und Zukunft, grob gesagt, baut auch die Installation „I Gong“ von Gregor Ladenhauf alias Zanshin auf, der im Rahmen des Festivals erstmals den Chinesischen Pavillon oben auf dem Schlossberg bespielt. Ein eigens aus dem Gong-Zentrum Wuhan, of all places, bestellter Gong hängt dort eingebettet in die sechs Linien eines Hexagramms nach dem I Ging-Muster. Dieses legendäre Buch der Wandlungen, offenbar eine der ältesten chinesischen Schriften, errechnet nach einem binären Strichmuster Weissagungen für die Zukunft. Hier im Pavillon werden diese Hexagramm-Muster von einem Computer generiert und über elektromagnetische Schlägel auf den Gong übertragen.

I Gong Installation beim Elevate in Graz

Clara Wildberger / Elevate

Ob die meditativen Klänge des wandelbaren Orakels für die Zukunft Erlösung oder Untergang verheißen, ist für Außenstehende unmöglich zu dechiffrieren, die Klangskulptur lädt die Besucher*innen also umso mehr zum kontemplativen Innehalten im Moment ein. Kurz bevor sich am Donnerstagnachmittag die ersten Gongschläge in den Grazer Himmel schwingen, haben sich die Regenwolken wie von Zauberhand verzogen.

Fotos vom Elevate-Festival 2021 - Lukas Lauermann am Cello

Johanna Lamprecht

Lukas Lauermann

Wenn ein frischer Wind aufzieht, ist es Zeit, in den Dom zu übersiedeln. Dort nehmen die drei Konzerte von Maria W. Horn, Lukas Lauermann und Anna von Hausswolff, zweimal Solo-Orgel, einmal Solo-Cello, das wie benommen in die Dunkelheit blinzelnde Publikum behutsam an der Hand. Wenn die Schwedin Maria W. Horn mit minimalistischen Orgel-Meditationen die Zeit anzuhalten scheint, oder wenn Lukas Lauermann digitale Glockenspiel-Impulse ins Kirchenschiff schickt, herrscht momenteweise völlige Stille im Raum. Das Elevate konnte schon immer auf ein Publikum setzen, das ihm vertraut und die Reisen mitmacht. Bevor es allzu andächtig wird, zerkratzt Lauermann dann mit dem Cellobogen die Schönheit seiner Töne, manchmal verschwindet er auch ganz bei seinen Klangkästchen am Boden.

Fotos vom Elevate-Festival 2021

Johanna Lamprecht

Anna von Hauswolff

Headlinerin Anna von Hausswolff hat ihr aktuelles Solo- und Instrumental-Orgel-Album „All thoughts fly“ im Gepäck, was vielleicht manche enttäuscht, die auf die befreiende Kraft ihrer vokalen Geisterbeschwörungen gehofft hatten. Auf die nicht zu leugnende Eingängigkeit, die man aus ihren Gothpop-Hymnen der Vergangenheit kennt, wartet man heute vergeblich. Vielmehr vertont von Hausswolff, an der sicherlich auch körperlich fordernden Arbeit an der Grazer Dom-Orgel von zwei Mit-Musikern unterstützt, die endlose Gegenwart in Form von dröhnender Minimal Music, die die Kirche in Wellen flutet. Die ersehnte Erlösung findet an diesem Abend nur in Form von aufgelösten Septakkorden statt, nicht als wummernder Beat oder hymnische Teufelsaustreibung, und das passt nur allzu gut zu einer Zeit, in der sich niemand mehr aus der Verantwortung für die Zukunft stehlen kann. „Für Pessimismus ist es ein bisschen zu spät“, hatte Philipp Blom am Vorabend einen Freund zitiert, aber für ein paar Stunden zumindest kann im Dom der Moment zum Momentum werden.

Fotos vom Elevate-Festival 2021

Johanna Lamprecht

Der erste Tag des Elevate in seiner diesjährigen Hochsommer-Edition ist wie so manches soziale Event dieser Tage noch durchzogen von einer gewissen ehrfürchtigen Schüchternheit. Vor allem in Graz, wo die Clubs nach dem Ende der jüngsten Lockdowns nicht wieder aufgesperrt haben, ist das Festival für viele Menschen das erste größere Zusammenkommen mit anderen, dementsprechend vorsichtig wird gewunken, geprostet, gesmalltalked. Die Erinnerung an das letzte Elevate, das im März 2020 nur wenige Tage vor dem ersten Herunterfahren des Landes noch unter wirklich normalen Umständen stattfinden konnte, sind noch frisch und wirken gleichzeitig wie aus einem anderen Leben.

Umso inspirierender ist nun die Konfrontation mit künstlerischen und sozialen Realitäten, ohne Vorskippen, ohne Tippzeit oder das Sicherheitsnetz eines Screens. Momentum, das Festivalmotto, meint eine kurze Zeitspanne, in der Vieles möglich scheint. Möglich ist im ganz Kleinen heute auch einfach eine vorsichtige Umarmung, ein Bier vom Kebapstand am Brunnen, eine Dosis Orgel-Ambient in Zeitlupe. Die Gemeinschaft als wahrer Safe Space, nichts kann das ersetzen.

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